Die Barbarei der Hamas gegenüber Israel ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Bei den Massakern, Vergewaltigungen und Entführungen von Zivilpersonen aus Dörfern, Kibbuzim und von einem Musikfestival handelte es sich um ein Pogrom, das die wahren Absichten der Hamas bestätigte. Ihr geht es um die Zerstörung des Staates Israel und die Vernichtung aller Israelis. Dennoch gilt es, die Situation in einen historischen Kontext zu stellen – nicht um irgendetwas zu rechtfertigen, sondern um Klarheit über den weiteren Weg zu gewinnen.

Die Lage spitzte sich zu, als Benjamin Netanjahu eine neue Regierung bildete, in die er auch rechtsextreme, siedlungsfreundliche Parteien einbezog, die sich offen für die Annexion palästinensischer Gebiete im Westjordanland aussprechen. Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, glaubt, dass "mein Recht, das Recht meiner Frau und das Recht meiner Kinder, sich (im Westjordanland, Anm.) frei zu bewegen, wichtiger ist als das der Araber". Dieser Mann wurde einst vom Armeedienst ausgeschlossen, weil er Verbindungen zu extremistischen, antiarabischen Parteien hatte, die nach dem Massaker an Arabern 1994 in Hebron als Terrororganisationen eingestuft wurden.

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Der Wunsch nach Frieden bleibt nach dem Angriff der Hamas auf Israel vorerst eine Utopie.
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Israel, das sich lange rühmte, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, verwandelt sich unter der derzeitigen Regierung Netanjahu in einen Gottesstaat. In ihren "Grundprinzipien" heißt es: "Das jüdische Volk hat ein ausschließliches und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, im Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria – fördern und vorantreiben." Es ist unschwer zu erkennen, dass beide Seiten – Hamas und Israels ultranationalistische Regierung – gegen jede Friedensoption sind.

Der Angriff der Hamas fällt in eine Zeit schwerer Konflikte innerhalb Israels, nachdem die Regierung Netanjahu versucht hat, die Justiz zu entmachten. Das Land ist gespalten zwischen nationalistischen Fundamentalisten, denen es um die Abschaffung demokratischer Institutionen geht, und einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die sich dieser Bedrohung zwar bewusst ist, jedoch zögert, sich auf die Seite gemäßigterer Palästinenser zu stellen.

Nun liegt die drohende Verfassungskrise auf Eis. Es ist die alte Geschichte: tiefe und offenkundig existenzielle Gräben im Inneren werden dank eines gemeinsamen äußeren Feindes plötzlich überwunden. Muss es einen Außenfeind geben, um Frieden und Einheit im eigenen Land zu erreichen? Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen?

Weg in die Zukunft

Der frühere israelische Premierminister Ehud Olmert sieht den Weg in die Zukunft darin, die Hamas zu bekämpfen und gleichzeitig auf jene Palästinenser zuzugehen, die keine Antisemiten und zu Verhandlungen bereit sind. Im Gegensatz zu den Behauptungen israelischer Ultranationalisten gibt es diese Menschen tatsächlich. Am 10. September unterzeichneten mehr als einhundert palästinensische Wissenschafterinnen, Wissenschafter und Intellektuelle einen offenen Brief, in dem sie "jeden Versuch der Verharmlosung, Falschdarstellung oder der Rechtfertigung von Antisemitismus, Nazi-Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Geschichtsrevisionismus im Hinblick auf den Holocaust auf das Schärfste zurückweisen".

Sobald wir erkennen, dass nicht alle Israelis fanatische Nationalisten und nicht alle Palästinenser fanatische Antisemiten sind, können wir beginnen, die Verzweiflung und Verwirrung zu verstehen, die zu Ausbrüchen des Bösen führen. Wir können beginnen, die merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Palästinensern, denen ihr Heimatland verwehrt wird, und Juden zu erkennen, deren Geschichte von denselben Erfahrungen geprägt ist.

Eine ähnliche Homologie gilt für den Begriff "Terrorismus". Während der Zeit des jüdischen Kampfes gegen das britische Militär in Palästina war der Begriff "Terrorist" positiv konnotiert. Ende der 1940er-Jahre erschien in US-amerikanischen Zeitungen eine Anzeige unter dem Titel "Brief an die Terroristen Palästinas", in dem der Hollywood-Drehbuchautor Ben Hecht schrieb: "Meine tapferen Freunde. Ihr werdet vielleicht nicht glauben, was ich euch schreibe, denn derzeit wird ja viel Mist verbreitet. Aber die Juden Amerikas sind für euch."

Welches Land?

Hinter aller Polemik darüber, wer heute als Terrorist gilt, verbirgt sich die Masse der palästinensischen Araber, die seit Jahrzehnten in einer Art Niemandsland leben. Wer sind sie, und welches Land ist ihr Land? Sind sie Bewohnerinnen und Bewohner der "besetzten Gebiete", des "Westjordanlandes", von "Judäa und Samaria" oder des Staates Palästina, der von 139 Staaten anerkannt wird und seit 2012 Nichtmitgliedsstaat mit Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen ist? Israel, das die Kontrolle über dieses Territorium innehat, behandelt die Palästinenser jedoch wie zeitweilige Siedler, als Hindernis für die Errichtung eines "normalen" Staates, in dem die Juden als einzig wahre Einheimische gelten. Die Palästinenser werden grundsätzlich als Problem betrachtet. Der Staat Israel ist ihnen nie entgegengekommen, hat ihnen keine Hoffnung vermittelt oder ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, in positiver Weise umrissen.

Verzweifelte Lage

Hamas und israelische Hardliner sind zwei Seiten einer Medaille. Es gilt nicht, sich zwischen der einen oder der anderen Hardliner-Fraktion zu entscheiden, sondern zwischen Fundamentalisten und all jenen, die noch an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz glauben. Zwischen palästinensischen und israelischen Extremisten kann es keinen Kompromiss geben. Sie sind durch die uneingeschränkte Verteidigung der Rechte der Palästinenser zu bekämpfen, die ihrerseits wiederum mit einem unerschütterlichen Bekenntnis zur Bekämpfung des Antisemitismus Hand in Hand zu gehen hat.

So utopisch das auch klingen mag, die beiden Kämpfe sind untrennbar miteinander verbunden. Wir können und sollten das Recht Israels, sich gegen terroristische Angriffe zu verteidigen, bedingungslos unterstützen. Aber wir müssen auch bedingungsloses Mitgefühl mit der wirklich verzweifelten und hoffnungslosen Lage der Palästinenser in Gaza und den besetzten Gebieten haben. Wer in dieser Position einen "Widerspruch" sieht, blockiert effektiv eine Lösung. (Slavoj Žižek, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 18.10.2023)