Eine junge Frau betrachtet Zettel mit Bildern von Entführten, die auf einer Mauer in Tel Aviv zu sehen sind.
199 Israelis wurden von der Terrororganisation Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Ihre Befreiung habe "höchste nationale Priorität", teilte ein Militärsprecher am Montag mit.
Foto: EPA / Abir Sultan

Am 9. Jänner 2016, als eine Welle des jihadistischen Terrorismus Frankreich in Trauer versetzte – nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, Bataclan und vor Nizza –, erklärte Premierminister Manuel Valls: "Den Jihadismus zu erklären heißt schon, ihn ein wenig entschuldigen zu wollen." Zu Recht empörten sich die Intellektuellen des Landes über ein so geringes Verständnis dessen, was das Wesen der Humanwissenschaften ausmacht.

Als französisch-österreichischer Jude reagiere ich in gleicher Weise auf die verschiedenen Stimmen, die in Österreich ihre Kommentare zu den Schrecken des aktuellen Krieges in Israel abgeben, die letzte Episode eines Konflikts, der seit mindestens 75 Jahren (muss man daran erinnern?) zwischen Israelis und Palästinensern herrscht. Seit dem Abzug aus dem Gazastreifen 2005 ist die Operation "Eiserne Schwerter" die fünfte Episode eines Krieges mit wechselnder Intensität. Zur Erinnerung: "Gegossenes Blei" (2008), "Wolkensäule" (2012), "Protective Edge" (2014) und "Wächter der Mauern" (2021). Zwar ist die Gewalt diesmal von ganz anderem Ausmaß: Invasion, Massaker, Geiselnahmen, drohende Ausbreitung. Es handelt sich jedoch um eine Fortsetzung der vorangegangenen Episoden.

Ein Kriegsverbrechen

Die Ermordung der israelischen Zivilbevölkerung durch die Hamas ist ein Kriegsverbrechen. Hunderte Jugendliche, die an einer Rave-Party teilnahmen, wurden hingerichtet; die Bewohnerinnen und Bewohner der Kibbuzim Kfar Aza und Be'eri gefoltert, verbrannt und geköpft. Weder Kinder, Babys noch alte Menschen wurden verschont. Auch andernorts kam es zu Übergriffen gegen Zivilisten, und Israelis wurden entführt. Nichts kann eine solche Unmenschlichkeit rechtfertigen. Nichts.

Die koloniale, diskriminierende Politik Israels ist aber auch kein Elefant in der Mitte des Raumes, den zu erwähnen verboten wäre. Die Zeilen des Schriftstellers Doron Rabinovici werden überall wiedergegeben: "Das ist der Moment, um Farbe zu bekennen. Wer angesichts der Aufnahmen aus Israel die Untaten der Hamas durch den Verweis auf die israelische Besatzung relativiert, verteidigt die Massenmörder." Nein, über die Kolonisation zu sprechen bedeutet nicht, die Barbarei der Hamas zu rechtfertigen!

"Wo sind unsere Soldaten?"

Erinnern wir uns an die Frage "Wo sind unsere Soldaten?", die von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Sderot, Erez oder Be’eri gestellt wurde, als sie erstaunt feststellten, dass die israelische Armee diese nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegenden Orte verlassen hatte. Drei Viertel der Einheiten waren im Westjordanland stationiert, um die 500.000 Siedler zu schützen, die das Land der Palästinenser unter Missachtung des Völkerrechts besetzt halten, und um die gewalttätigen Übergriffe einzudämmen, die dieselben Siedler in palästinensischen Dörfern verüben, wie in Huwara im Februar dieses Jahres. Avner Barnea, ein ehemaliger Offizier des Sicherheitsdienstes Shin Bet und derzeit Forscher am National Security Studies Center der Universität Haifa, erinnert daran, dass unter normalen Umständen zwischen 50 und 70 Prozent der Streitkräfte damit beschäftigt sind, das Westjordanland zu durchkämmen, und dass von diesen Streitkräften 80 Prozent zum Schutz der Siedler eingesetzt werden.

Monumentaler Fehler

Der Fehler der Geheimdienste, angefangen beim Shin Bet, ist monumental, aber auch die Politik der israelischen Regierung – der korruptesten und kolonialisierendsten in der Geschichte des Landes – ist zu hinterfragen: die Situation der politischen Gefangenen; die Umwandlung des Gazastreifens in ein Freiluftgefängnis; die Fortsetzung und Ausweitung des Siedlungsbaus im Westjordanland; die systematischen Demütigungen der Palästinenser an den Checkpoints; die geduldeten Übergriffe und ständigen Provokationen auf der Moschee-Esplanade; und innenpolitisch die Justizreform, die dem Obersten Gerichtshof einen Maulkorb verpasst und das Land in den Kreis der illiberalen Regime führt. Dies hat die Fähigkeit Israels geschwächt, ein Land der Gerechtigkeit und damit des Friedens und der Sicherheit zu sein.

Blinde Gewalt bringt keine Lösung, ebenso wenig wie die Tatsache, dass man die Toten nur auf einer Seite betrauert. Auch in Österreich kann man nicht "Israel über alles" stellen, um die Gräueltaten der Großväter in der Nazizeit wiedergutzumachen. So einfach und so leicht ist es nicht.

Lebenswichtige Utopie

Sobald alle Opfer betrauert sind, muss man endlich wieder über einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern nachdenken und die Politik ändern: die zunehmende Besiedlung des Westjordanlandes beenden, gute Vermittler finden und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und echte politische Souveränität anerkennen. Die gemeinsame Erstellung eines politischen Fahrplans ist eine lebenswichtige Utopie, denn es wird keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben.

Die von der Hamas begangenen Gräueltaten sind durch nichts zu rechtfertigen, und ich verurteile sie vorbehaltlos. Heute ist es ebenso zwingend, die Gewalt gegen die Palästinenser zu verurteilen, die im Gazastreifen einer unmenschlichen Blockade unterworfen sind, die gegen das Völkerrecht verstößt, wie die Uno vor kurzem in Erinnerung gerufen hat. Nur die volle Anerkennung der Menschlichkeit jedes einzelnen Opfers des Konflikts wird Frieden ermöglichen. Auch für die internationalen, insbesondere die europäischen Institutionen gilt es, die Prinzipien, die sie verteidigen wollen, konsequent zu vertreten. (Jérôme Segal, 17.10.2023)