In einem Punkt herrscht momentan nicht nur in Österreich eine erstaunliche Einmütigkeit. Der Anschlag der Hamas markiert eine Zeitwende, so wie eineinhalb Jahre zuvor der Überfall Russlands auf die Ukraine. Einhelligkeit besteht auch hinsichtlich seiner moralischen Verurteilung. Diejenigen, die in ihrem Eifer für die Anliegen der Palästinenser den Staat Israel für die Konflikte alleinverantwortlich machen wollen, schweigen.

Selbst die Rechtsaußenpartei, deren einstmaliger Chefideologe Andreas Mölzer sich unlängst amikal mit den Taliban, geistigen Brüdern der Hamas, traf, hat wie der Wolf im Märchen Kreide geschluckt. Zu schwer wiegen die bösen Taten, für die es noch keinen Namen gibt und die eine aberwitzige Verbindung von Krieg und Pogrom darstellen, bei denen wahllos Kinder, Frauen und Zivilisten ermordet und abgeschlachtet wurden.

Israel Terror Gedenken
Teilnehmende der Gedenkveranstaltung für die Opfer und Vermissten in Israel am vergangenen Mittwoch in Wien.
Foto:A PA/EVA MANHART

Wird dieser Anschlag ein Umdenken bewirken und Konzepte, die eine Äquidistanz zwischen Israel und den palästinensischen Regimen befürworten, stornieren?

Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie die neue Regierung in Jerusalem auf diese reale wie symbolische Herausforderung reagieren wird. Höchst wahrscheinlich, dass die Abschneidung des Gazastreifens von lebensnotwendigen Ressourcen, eine fragwürdige Pauschalbestrafung einer ganzen Bevölkerung, den Schrecken der Hamas nachträglich relativieren könnte. Insofern spielen dieser solche Gegenmaßnahmen in die Hände, läuft doch die Strategie der Hamas auf die Umkehrung der Opferrolle hinaus, sodass wie in all den vergangenen Jahrzehnten die Israelis einseitig als Täter, die Palästinenser ausschließlich als Opfer dastehen.

Antiwestlicher Affekt

Hinter der Maske der einmütigen Verurteilung verbirgt sich eine Zweideutigkeit. Nicht wenige bekämpfen zu Recht den fortdauernden Antisemitismus hierzulande, haben aber kein Problem damit, symbolisch gesprochen Palästinensertücher zu tragen. Schon vergessen ist die antikolonialistische Rhetorik, die den Staat Israel mit dem Apartheidsregime in Südafrika verglichen hat, weshalb man – Stichwort BDS – noch heute dazu aufruft, Produkte aus Israel zu boykottieren. Fälschlicherweise, aber gern wird die Neutralität unseres Landes beschworen, um jedwede Parteinahme abzuwehren.

Wo liegen die Ursachen für diesen Zwiespalt? Zunächst einmal ist da ein antiwestlicher Affekt, der sich pauschal gegen die USA richtet, die enorme Mittel eingesetzt haben, um Sicherheit und Erhalt dieses von seinen arabischen Nachbarstaaten bedrohten Israel zu gewährleisten. Dieser auf den ersten Blick plausible Vorbehalt ist ein Erbe des Kalten Krieges und der dunklen Kapitel der Dekolonisation. Vergessen wird dabei nicht nur der realpolitische Umstand, dass Europas und Israels Sicherheit ohne das Bündnis mit den USA und anderen westlichen Demokratien undenkbar wäre. Die Fundamentalkritik an "dem Westen" ignoriert auch einen Unterschied, der zählt: die Differenz zwischen menschenrechtlich repräsentativen liberalen Demokratien und autokratischen und diktatorischen Regimen.

Demokratische Verfassung

Im landläufigen Antiisraelismus kommt nicht vor, dass allein Israel in dieser Region trotz aller unheilvollen Tendenzen noch eine demokratische Verfassung besitzt. In dieser Auseinandersetzung zwischen demokratischen Werten und aggressivem Islamismus ist Neutralität obszön. Die Hamas bedroht nicht nur die Sicherheit Israels, sondern verhindert wie so viele fundamentalistische Regime im arabischen Raum Wohlfahrt, Demokratie und Menschenrechte im eigenen Herrschaftsbereich.

In manchen Fällen ist bei der Beurteilung des Konfliktes ein psychoanalytisch zu deutendes Moment am Werk: Man identifiziert sich mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus, nicht aber mit dem Staat Israel. Diesem wird die ausdrückliche Solidarität verweigert, weil das Land nicht dem Bild des armen Opfers entspricht, sondern gelernt hat, sich in den Auseinandersetzungen mit den Nachbarn erfolgreich zu behaupten. Israel fügt sich nicht in das Bild des unschuldigen Opfers. So mutieren seine Bewohner zu postkolonialen Tätern, während sich die Palästinenser in die "eigentlichen Juden" verwandeln.

Schieflage korrigieren

Bei allem Respekt vor den Leistungen der Kreisky-Ära, die diese Stimmungslage mit erzeugt hat, wäre der Anschlag der Hamas eine gute Gelegenheit, diese Schieflage zu korrigieren. Die Verpflichtung zur uneingeschränkten Solidarität von Deutschen, Österreichern und Europäern mit Israel schließt die besorgte Kritik an bestimmten Maßnahmen israelischer Regierungen nicht aus, sondern verleiht ihr erst Glaubwürdigkeit.

Dass es mittlerweile in Europa neben antisemitischen Israel-Feinden Politiker im ganz rechten Parteienspektrum gibt, die nach Israel reisen, weil sie wie Benjamin Netanjahu und seine nationalistischen Kompagnons in ihrem Land ein chauvinistisches Süppchen anrichten wollen, sollte uns nicht von der Verbundenheit mit Israel abhalten. Die Gefährlichkeit der gegenwärtigen politischen Lage besteht ja im Aufstieg von politischen Bewegungen allerorts, die auf den Konflikt setzen, weil sie sich von ihm nähren, und nichts von Kompromissen und jenem Mindestmaß von Respekt gegenüber Anderen wissen wollen, ohne den Demokratie und Frieden nun einmal undenkbar sind. (Wolfgang Müller-Funk, 14.10.2023)