Die Hamas, der Name ist ein Akronym für Islamische Widerstandsbewegung, wurde 1987 als Zweig der ebenfalls als islamistisch eingestuften "Muslimbruderschaft" gegründet. Sie gilt als terroristische Organisation, weil sie unter anderem das Ziel hat, den Staat Israel mit militärischen Mitteln zu beseitigen und einen islamischen Staat zu errichten. Die zuletzt in den sozialen Medien kursierenden Bilder, die Araber zeigen, wie sie die Angriffe der Hamas bejubeln und in den Straßen Süßigkeiten verteilen, bezeugen breite Solidaritätsbekundungen mit der Hamas, sowohl in der arabischen und islamischen Welt als auch hier bei uns in Europa.

Und gerade diese Bilder zeigen, wie komplex die Vorgänge im Nahen Osten sind. Das Problem sitzt offensichtlich viel tiefer, als es sich in der Empörung vieler von uns über den brutalen Angriff der Hamas auf Israel zeigt. Wir nehmen die Hamas als eine terroristische Organisation wahr, was auch richtig ist. Von vielen Palästinensern, Arabern und Muslimen wird diese Bewegung hingegen als mutige Widerstandskraft glorifiziert. Denn in der arabischen und islamischen Welt herrscht ein Narrativ, mit dem sich hier bei uns in Europa kaum jemand auseinandersetzt.

Demonstration Israel Polizei Wien
Sorgte für Irritation und Empörung: Demonstration propalästinensischer Aktivisten in der Wiener Innenstadt.
Foto: APA/TOBIAS STEINMAURER

Viele Araber und Muslime betrachten Israel als Besatzungsmacht. Dazu spielen religiöse Emotionen wie die vorgebliche Verteidigung der wichtigen Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem eine zentrale Rolle. Im Narrativ vieler Muslime ist Israel der Aggressor, die Hamas die Verteidigerin der heiligen Stätten des Islam. Daher wird der jüngste Angriff der Hamas nicht als Terroranschlag gesehen, sondern als legitimer Akt der Selbstverteidigung. Das uns hier bekannte und vertraute Narrativ vom Holocaust wird hingegen in der arabischen Welt und in vielen muslimischen Gesellschaften kaum kommuniziert.

Und daher wundert es nicht, dass zum Beispiel einer der größten arabischen Sender, Al Jazeera, Israel für die jüngsten Anschläge der Hamas verantwortlich macht. Dabei spielen Emotionen eine zentrale Rolle, denn es gelte im Nahostkonflikt die Metapher von David gegen Goliath. Hier die kleine Hamas mit kaum militärischem Know-how und dort Israel mit den fortschrittlichsten Waffensystemen der Welt samt militärischer Unterstützung der USA.

Man darf auch nicht vergessen, dass die arabische Welt seit dem Sechstagekrieg, in dem Israel eine vernichtende Niederlage gegen mehrere arabische Staaten innerhalb von sechs Tagen gelungen ist, an einer Art Israel-Trauma leidet. Und nun schafft die Hamas es, in wenigen Stunden den ganzen israelischen Militärapparat zum Wanken zu bringen. Für viele Araber stellt dies eine Art Genugtuung dar. Die Hamas wird dadurch in ihrer Selbstwahrnehmung als die Kraft bestätigt, die Israel Paroli bieten kann. Sie schafft es durch ihre terroristischen Angriffe gegen israelische Städte, das Gefühl der Ohnmacht vieler Araber, darunter Muslime wie auch Christen, zumindest für wenige Stunden zu verdrängen.

Schwere Versäumnisse

Stimmen, die das Vorgehen der Hamas zu rechtfertigen versuchen, berufen sich auf Argumente wie diese von einem bekannten deutschen Journalisten mit palästinensischen Wurzeln: "Wenn die Zunge der Palästinenser systematisch abgeschnitten wird, wie sollen sie sich mit Worten wehren? Wenn das Wahlrecht der Palästinenser unterbunden wird, wie sollen sie sich mit Kreuzen wehren? Wenn ihre Bewegung eingeschränkt wird, wie sollen sie sich mit Demos wehren? Was erwarten Leute?"

Die israelische Politik darf und an manchen Stellen muss sie sogar kritisiert werden. Man muss sie und ihr Vorgehen im Gazastreifen nicht gutheißen, aber diese als Rechtfertigung für Gewalt zu verwenden, ist ohne Wenn und Aber unakzeptabel.

Die Weltgemeinschaft muss nun zugeben, dass wir es in den letzten Jahrzehnten versäumt haben, den Nahostkonflikt und seine langfristigen Konsequenzen ernst genug zu nehmen. Junge Männer, die im Gazastreifen ohne Perspektive leben und mit dem Kriegsnarrativ aufwachsen, müssen aufgefangen werden. Da reichen nicht Verurteilungen und Verbote von Hamas. Hier sind gezielte wirtschaftliche wie auch Bildungsmaßnahmen notwendig. Dabei geht es nicht lediglich darum, Geld an die palästinensische Regierung zu senden, sondern professionell durchdachte Pläne unter Beobachtung von Expertinnen und Experten umzusetzen.

Nicht die Lösung

In Österreich muss der Nahostkonflikt im Bildungssystem, in den Schulbüchern sowie in den Moscheen und im öffentlichen Diskurs offen angesprochen werden. Man darf nicht vergessen, dass viele Flüchtlinge, die aus Syrien zu uns kamen, von ganz anderen Narrativen über das Judentum, die jüdische Bevölkerung und den Staat Israel geprägt sind als wir. Auch über das Judentum im Koran muss offen geredet und diskutiert werden, um durch historisch-kritische Lesarten des Korans eventuelle menschenfeindliche Potenziale zu entschärfen. Tabuisieren, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist Teil des Problems und nicht der Lösung. Tabuisierte Probleme sind tickende Zeitbomben, die nur auf einen entsprechenden Anlass warten, um Frust und Schadenfreude freien Lauf zu lassen. Es bleibt nur zu hoffen, dass es zu einer baldigen Einstellung aller Kampfhandlungen kommen wird und dass dieser Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden kann. (Mouhanad Khorchide, 14.10.2023)