Es war einer jener Momente, die aufhorchen lassen. Mitten in seiner Rede wenige Tage nach dem Hamas-Überfall auf Israel schlug Joe Biden mit den Fäusten auf das Rednerpult. Mit einem Mal war es lautes Rufen, das die sonst so nuschelnde, verschliffene Sprache des US-Präsidenten durchstieß. Mit eindringlichen Worten erklärte der 80-Jährige auf einer Veranstaltung gegen Antisemitismus, wieso er seine Kinder und Enkelkinder jeweils zu ihrem 14. Geburtstag mit in die Gedenkstätte Dachau nahm. "Ich wollte, dass sie SEHEN, dass man damals nicht nicht wissen konnte, was vor sich geht! (...) Dass man nicht missverstehen konnte, was passiert!"

Eine Woche später, 19. Oktober: Auch durch jene Rede, in der Biden seine Landsleute auf fortwährende Unterstützung für Israel und die Ukraine einschwören will, zieht sich wie ein roter Faden das gleiche Motiv. Für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat müsse man kämpfen. Wegschauen, obwohl man handeln könnte – das gehe nicht. Allerdings waren es nicht nur moralische Gründe, die der gerade aus Israel heimgekehrte Präsident in seiner Ansprache aus dem Oval Office nannte.

Zwiespältige Ausgangssituation

Biden mühte sich, den Kampf gegen die russische Autokratie in der Ukraine und den gegen extremistischen Terror in Israel als zwei Seiten der gleichen Medaille zu präsentieren: als Angriffe auch auf die US-Sicherheit. Trete man Diktatoren und Terroristen nicht entgegen, würden sie immer weitermachen, so der Präsident, und am Ende die USA direkt gefährden.

President Biden Addresses the Nation from the Oval Office
President Biden addresses the nation to discuss our response to Hamas’ terrorist attacks against Israel and Russia’s ongoing brutal war against Ukraine. The White House
The White House

Biden handelt aus einer zwiespältigen Ausgangssituation. Gerade nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel haben die USA deutlich Führungsstärke gezeigt – Washington lässt mit Flugzeugträgern in der Region die Muskeln spielen, verhandelte mit Ägypten über Hilfslieferungen für Gaza, Biden zeigte in Israel mitfühlend Solidarität. Der Vergleich mit den teils wirr erscheinenden Bemühungen der EU-Vertreter, die am Freitag dann Biden in Washington die Aufwartung machten, muss aus europäischer Sicht schmerzen.

Unumstrittene Hilfen

Und doch steht seine Regierung unter viel stärkerem Druck, als es von außen den Anschein hat – und mit ihr unmittelbar jene Werte, die Biden im Ausland verteidigen will. Eine Kleingruppe rechtsextremer Abgeordneter demonstriert schon seit zwei Wochen, wie leicht man auch den US-Parlamentarismus lähmen kann – wenn man nur will. Sie haben Kevin McCarthy als Parlamentspräsidenten abgewählt, vielleicht einfach des Chaos halber. Und weil sie aus den gleichen diffusen Gründen jede Nachfolge blockieren, steht der Kongress seit Wochen still – und so auch jene rund 100 Milliarden an Hilfen, für die Biden wirbt. Gibt es in zwei Wochen keine Einigung, geht dem Staat das Geld und in Washington das Licht aus.

Warb in seiner Rede um Rückhalt: US-Präsident Joe Biden.
AFP/POOL/JONATHAN ERNST

Man muss nicht schwarzmalen: Die Argumente, die Biden für Amerikas Rolle in der Welt anführte, können durchaus Überzeugungskraft entwickeln. Die Hilfen für Israel sind so gut wie unumstritten, eine Mehrheit der US-Bürger will auch die Ukraine unterstützen.

Und doch: So sehr Biden die "Welt am Wendepunkt" beschwor, in der die USA kraftvoll auftreten müssten – sein Hauptthema, der Kampf der Demokratie gegen Autokratie, wird doch stets vom Wissen überschattet, wie schnell sich die Rolle der USA in der Welt wandeln kann, wenn der Kampf im Inneren scheitert. (Manuel Escher, 20.10.2023)