Ein Flüstern streift durch die Landschaften, in denen sich Anselm Kiefer bewegt. Kaum verständlich wispern sich Stimmen etwas zu, wie geisterhafte Wesen stehen Skulpturen des Künstlers im Wald. Zarte Sonnenstrahlen und dramatische Musik beherrschen diesen mystischen Ort.
Die Welt, in die man in Anselm – Das Rauschen der Zeit des Regisseurs Wim Wenders eintaucht, hat eine eigenwillige Sogwirkung. Seit 30 Jahren kennen sich die zwei deutschen Berühmtheiten und planen seitdem einen Film, der diesen von Kiefer geschaffenen Kosmos voller Mythos, Geschichte, Gewalt und Poesie zeigt. Auf keinen Fall darf hier eine klassische Dokumentation erwartet werden, Interviews und Gespräche gibt es wenige – und wenn, entspringen sie Archivmaterial.
Der Künstler, der als wortkarger und geheimnisvoller Gastgeber in seine Realität einlädt, wird viel eher begleitet. Stets in Schwarz gekleidet und oft mit Zigarre in der Hand radelt er durch sein südfranzösisches Atelier, das so viel mehr ist als ein künstlerischer Arbeitsort. Auf dem 40 Hektar großen Gelände einer ehemaligen Seidenfabrik schuf Kiefer ein gigantisches Kunstareal, in und an dem der 78-Jährige unermüdlich arbeitet.
Flug durch Lagerhallen
Der Film lebt vor allem durch die Stärke der Bilder, die diese überwältigenden Dimensionen erst verdeutlichen. Ein Grund, weshalb sich Wenders dafür entschied, dieses Filmexperiment in 3D anzulegen. Das Erlebnis sollte man also unbedingt im Kino sehen.
Man schwebt an meterhohen Regalen vorbei, die an Lagerhallen von Einrichtungshäusern erinnern. Riesige Leinwände werden von Kiefer mit Flammenwerfer bearbeitet, unterirdische Trümmerkammern ruhen wie XXL-Rauminstallationen, und schiefe Türme – so groß wie Häuser – ragen in der umliegenden Landschaft in den Himmel.
Die teils langen, beobachtenden Einstellungen deutscher Wälder, die mit klassischer Musik unterlegt sind, gleiten zwischendurch ins Pathetische ab. Man lässt es dem Film aber angesichts der drängenden Ernsthaftigkeit des Werks des großen Künstlers durchgehen.
Hitlergruß und Kampfflugzeuge
Wie kein anderer arbeitet sich der 1945 geborene Kiefer – Joseph Beuys galt ihm als wichtiger Mentor – seit den späten 1960er-Jahren an der deutschen Geschichte und ihren Abgründen ab. Seine Werke klagen seit jeher die Gräuel der NS-Zeit und vor allem das verdrängende Schweigen danach an.
Mit frühen Aktionen provozierte er und hielt der Gesellschaft einen Spiegel vor: In der Wehrmachtsuniform seines Vaters tourte er durch Europa und zeigte den Hitlergruß. Später erhob er versteinerte Kampfflugzeuge zu skulpturalen Kunstwerken. Bis heute beschäftigt sich Kiefer exzessiv mit der großen Wunde der deutschen Vergangenheit.
Als er in den USA bereits als einer der spannendsten Gegenwartskünstler geehrt wurde, rief sein Beitrag im deutschen Pavillon der Venedig-Biennale 1980 heftige Kritik hervor. Seine Bezüge zum deutschen Nationalstolz wurden vielfach falsch als faschistisch interpretiert. Den Deutschen galt Kiefer lange als zu radikaler Pathologe der eigenen Geschichte.
Rückblicke mit Paul Celan
Diese Momente werden im Film mittels Rückblicken erzählt, die zum einen aus historischen Fernsehbeiträgen und zum anderen aus nachgestellten Szenen montiert sind. Den ganz jungen Kiefer spielt der kleine Großneffe des Regisseurs, Anton Wenders. Den bereits als Künstler tätigen jungen Erwachsenen Kiefers eigener Sohn Daniel.
Zum Ende hin verschwimmen die zeitlichen Ebenen elegant zu einer traumartigen Sequenz, in der Kiefers kindliches Ich dem heutigen Kunststar Gedichte von Paul Celan (omnipräsent!) vorliest – und später sich beide in der gefeierten Schau Kiefers befinden, die 2022 in Venedig gezeigt wurde.
Am Freitag startet der Film in den Kinos, am Mittwoch läuft er auf der Viennale. Eine Neuigkeit: Kiefer wird heuer den Eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper gestalten. (Katharina Rustler, 24.10.2023)