Büsten von Mao Tse-tung
Büsten und Bilder von Mao Tse-tung haben in westlichen Wohnzimmern Seltenheitswert. In China hingegen erlebt der tyrannische Staatsgründer unter Xi Jinping ein Comeback.
Niko Havranek

Als DER STANDARD im Oktober 1988 das Licht der Welt erblickte, war die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung noch intakt. Nördlich und östlich von Wien herrschten kommunistische Diktaturen. Die Grenzen wurden scharf bewacht, der Eiserne Vorhang wies keine Lücken auf. In Ungarn gab es unter dem sogenannten Gulaschkommunismus etwas mehr Freiheit, aber in Ländern wie der Tschechoslowakei und der DDR herrschten Unterdrückung und Mangelwirtschaft. In Moskau propagierte Parteichef Michail Gorbatschow Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Reform), um das kaputte sowjetische Wirtschaftssystem zu reparieren. Doch kaum jemand wagte in diesem Herbst, sich vorzustellen, dass diese Regime und diese Ideologie bald zusammenbrechen würden.

Geschichtsträchtiges Jahr

Einige Monate und rund 200 STANDARD-Ausgaben später begann diese Ordnung zu bröckeln und implodierte dann innerhalb kürzester Zeit. Zwischen dem symbolträchtigen Zerschneiden des Eisernen Vorhangs durch die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, im Juni 1989, was der ersten Fluchtwelle von DDR-Bürgern in den Westen den Weg ebnete, und der Erschießung des rumänischen Tyrannenpaares Nicolae und Elena Ceaușescu im Dezember, dem blutigen Fanal des Revolutionsjahres, lag gerade einmal ein halbes Jahr.

In ganz Osteuropa dankten die KP-Apparatschiks ab, die Geheimdienste wurden aufgelöst und die Planwirtschaft begraben – zwei Jahre später auch in Russland. Weltweit verschrieben sich Regierungen den Prinzipien der freien Marktwirtschaft. Ob China, Indien oder Südamerika – überall zog der Kapitalismus ein. Der streng marktwirtschaftliche "Washington-Konsens" wurde zur globalen Doktrin aller Wirtschaftspolitiker, der einst so mächtige und populäre Kommunismus landete auf dem Müllhaufen der Geschichte.

Hochburg des Antikommunismus

Oder doch nicht? Um Zweifel an dieser Erzählung aufkommen zu lassen, muss man gar nicht nach Graz schauen, wo seit zwei Jahren eine deklarierte Kommunistin die Stadtregierung führt. Die bescheidene Sozialaktivistin Elke Kahr weist keinerlei Ähnlichkeiten mit Wladimir Iljitsch Lenin oder Erich Honecker auf. Auch der junge Salzburger KP-Chef Kay-Michael Dankl ist eigentlich ein grüner Linkssozialist. Überhaupt war Österreich stets eine Hochburg des Antikommunismus und ist trotz mancher überraschender Wahlergebnisse auch heute für die Ideologie des Klassenkampfes nicht sehr anfällig. Salonfähig ist allerdings das Wort Kommunismus geworden, oder es hat zumindest bei vielen seinen Schrecken verloren.

Wichtiger ist die Tatsache, dass seit den frühen 1990er-Jahren die überlebenden kommunistischen Diktaturen – von Nordkorea über China, Vietnam und Laos bis hin nach Kuba – ihre Macht konsolidiert haben; niemand sagt ihnen noch ein baldiges Ende voraus. Gleichzeitig gewinnen marxistisch inspirierte Ideen über die Gesellschaft, das Wirtschaftssystem und eine faire Weltordnung auch in den westlichen Demokratien an Einfluss, während sich der Kapitalismus zunehmend in Bedrängnis befindet.

Kommunistische Genugtuung

"Sind freie Märkte Geschichte?", titelte der britische Economist, die Bibel der Marktwirtschaftler, Anfang Oktober und diagnostiziert die rasante Ausbreitung von "homeland economics", einer Ideologie, die Protektionismus, hohe Unternehmenssubventionen und andere massive staatliche Interventionen propagiert.

Von kommunistischer Planwirtschaft und der Vergesellschaftung, sprich Verstaatlichung, aller wesentlichen Produktionsmittel ist man noch weit entfernt. Es gibt heute kein Land der Welt, das privates Unternehmertum systematisch unterbindet, selbst in Nordkorea erwirtschaftet der private Sektor inzwischen mehr als der staatliche.

Und dennoch gibt es Aspekte des wirtschaftlichen und politischen Diskurses, die Kommunisten Genugtuung geben könnten. Das ist einerseits die Überzeugung von der Überlegenheit des Staates gegenüber dem Markt als Steuerungsmechanismus, der Wohlstand und Entwicklung bringt; und andererseits die starke Betonung auf das Übel der Ungleichheit, sowohl innerhalb von Ländern als auch zwischen dem reichen Norden und dem Globalen Süden. Beides ist heute salonfähig.

Folgen der Weltfinanzkrise

Das Comeback des mächtigen Staates lässt sich vor allem auf die Weltfinanzkrise von 2008/09 zurückführen, als die Bosse der westlichen Großbanken, die jahrelang die Effizienz der Finanzmärkte gepredigt hatten, um Milliardenhilfen betteln kamen, weil sie sich mit US-Immobilienkrediten völlig verspekuliert hatten. Die "Occupy Wall Street"-Bewegung breitete sich auf andere Finanzplätze aus und hoffte, mit lauten Protesten eine neue Wirtschaftspolitik zu schaffen, die nicht für die reichsten ein Prozent arbeitet, sondern für die anderen 99 Prozent.

Diese Hoffnungen der linken Aktivistinnen und Aktivisten erfüllten sich nicht, die verhassten Banker wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Aber als in den Folgejahren viele Niedriggehälter in den reichen Industriestaaten stagnierten, während einige Multimilliardäre immer reicher wurden, entstand ein breiter gesellschaftlicher Konsens, wonach die Marktwirtschaft zutiefst ungerecht ist. Paradoxerweise profitierten davon viel mehr rechtspopulistische Kräfte mit ihrem Misstrauen gegenüber liberalen Eliten als klassische linke Parteien.

Gleichzeitig schaute die Welt mit wachsender Bewunderung nach China, das sich zwar nach außen hin marktwirtschaftlich gab, aber mit Subventionen und Eingriffen eine neue Art des Staatskapitalismus schuf und so mit seinen Wachstumsraten alle anderen Volkswirtschaften in den Schatten stellte. Die Bewunderung vermischte sich mit Angst vor der Konkurrenz, vor allem in den USA, und ebnete so dem neuen Staatsaktivismus der Regierenden den Weg.

Paradoxerweise wird die chinesische Erfolgsgeschichte, dank deren hunderte Millionen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten der Armut entkommen sind, von der Linken nicht als Beleg für die gewaltigen Chancen der Globalisierung gesehen. Stattdessen haben die Rückschläge im Wachstum vieler Entwicklungsländer nach der Finanzkrise und in der Corona-Pandemie die Meinung verfestigt, dass eine Marktwirtschaft das globale Unrecht einzementiert und sogar vergrößert.

Antirassistisches Weltbild

Angeheizt wurde diese Perspektive noch durch den Antirassismus der neuen Linken, der im Kolonialismus die Wurzel allen Übels im Globalen Süden sieht und keine Besserung in der postkolonialen Welt erkennen will. Die zögerliche westliche Unterstützung für afrikanische und asiatische Staaten beim Zugang zu Covid-Impfungen und die Klimakrise geben dem Bild, wonach der Süden das Opfer des Geizes und der Gier des Nordens ist, neue Munition. Der Mangel an Covid-Impfstoff in vielen Staaten hat sich letztlich wenig auf tatsächliche Todesraten ausgewirkt, bei der Klimakrise haben die Vorwürfe hingegen mehr Berechtigung.

Auch diese Ansichten sind nicht per se kommunistisch. Aber sie wurzeln im vielleicht wichtigsten Prinzip der marxistischen Ideologie, das sich durch alle deklariert linken Positionen zieht: dass das kapitalistische Wirtschaftssystem auf Ausbeutung basiert und daher ein Nullsummenspiel darstellt, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen erzwingt, dass Wohlstand immer nur umverteilt und nie aus dem Nichts geschaffen werden kann.

Die neue Linke

Dem stehen die anerkannten ökonomischen Theorien sowie die faktischen Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte entgegen, in denen Wirtschaftsleistung und Lebensstandard in den meisten Ländern der Welt auch dank der Globalisierung gestiegen sind, während absolute Armut und Hunger zurückgegangen sind. Die Länder, in denen das nicht geschieht, sind jene, die von multinationalen Konzernen und internationalen Investoren links liegen gelassen werden, die an der Globalisierung gar nicht teilhaben.

Und wenn man die neue Linke in den meisten Ländern genauer betrachtet, dann wird sie viel stärker von Fragen der gesellschaftlichen und kulturellen Gerechtigkeit motiviert als von der wirtschaftlichen – Stichwort Wokeness. Auch da geht es um unüberbrückbare Konflikte, die aber von unterschiedlichen Identitäten geprägt werden und nicht vom Klassenkampf der alten marxistischen Schule. Echte Kommunistinnen und Kommunisten der alten Schule – und dazu zählt auch die deutsche Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht (Die Selbstgerechten) – beklagen lautstark diese Entwicklung, ebenso linksliberale Denkerinnen wie die US-Philosophin Susan Neiman (Links ist nicht woke). Aus ihrer Sicht finden die Interessen der wirtschaftlichen Verlierer, für die der Kommunismus seit 175 Jahren kämpft oder zu kämpfen behauptet, in den intellektuellen Salons von heute keine Beachtung mehr. (Eric Frey, 27.10.2023)