Baldur's Gate 3
Man muss nicht alles erklärt bekommen, man kann auch einfach einmal auf Entdeckungsreise gehen.
Larian Games

Ich gebe es offen zu: Eigentlich schaue ich vor allem bei epischen und storygetriebenen Spielen gerne mal in die Komplettlösung. Natürlich nicht des Schummelns wegen, sondern um zu erfahren, wie weit ich in der Geschichte bereits vorangeschritten bin und wie viel Zeit ich für den kommenden Spielabschnitt in etwa einplanen muss. Das hat eigentlich immer funktioniert, es nimmt mir vor allem beim privaten Spielen – beruflich durchgeführte Tests sind etwas anderes, da gibt es noch keine Komplettlösungen – Druck heraus und macht das Erlebnis insgesamt entspannter.

Doch dann sprang mir zuletzt in einer Komplettlösung zum vielgefeierten "Baldur's Gate 3" ein Satz entgegen, den ich bei anderen Spielen einfach überlesen hätte, der mich gerade bei diesem Spiel aber zum Nachdenken brachte: "Machen Sie eine Schnellreise." Schon vor ein paar Wochen hat Kollege Alexander Amon an dieser Stelle geschrieben, dass "Baldur's Gate 3" den Spielejournalismus vor allem aufgrund seines gewaltigen Umfangs vor neue Herausforderungen stellt. Und ich wage nun die Behauptung, dass auch die von den Gaming-Fachmedien bereitgestellten Komplettlösungen durch Spiele wie dieses obsolet werden.

Der Weg ist das Ziel

Denn wer in "Baldur's Gate 3" mit einer Schnellreise an einen bestimmten Ort zu gelangen versucht, der macht einen Fehler: Er verpasst jene Spielszenen, die andere erleben, wenn sie zum besagten Ort einen anderen, noch nicht erforschten Weg einschlagen, vielleicht nochmal einem Händler oder einem anderen Nichtspielercharakter (NPC) einen Besuch abstatten, um zu erfahren, ob die vorherigen Entscheidungen sich auf deren Stimmungslage ausgewirkt haben, oder um sich schlichtweg mit neuen Utensilien auszustatten, die man sich zuvor noch nicht leisten konnte.

Und es bleibt nicht dabei, dass der Spielerin oder dem Spieler durch die Schnellreise etwas entgeht. Denn Spiele wie dieses leben davon, dass sie entdeckt werden, dass an jeder Ecke ein neues Abenteuer lebt – es mag abgedroschen klingen, aber es ist wahr: Der Weg ist das Ziel. Wer strikt dem vorgegebenen Pfad einer Komplettlösung folgt, der ist zwar schneller mit dem Spiel fertig, er wird aber niemals gegen den Eulenbären in seiner Höhle kämpfen oder ein Buch zur Beschwörung von Ghulen hinter einem sprechenden Spiegel finden. Und das sind Spielerlebnisse, für die es sich auszahlt, einen Umweg zu gehen. Sie machen das Spiel erst zu dem, was es ist: eine gewaltige virtuelle Spielwiese voller faszinierender Geschichten, wie wir sie uns früher schon in unseren Pen-and-Paper-Spielrunden ausgedacht haben.

Starfield
Gespräche mit anderen Charakteren beeinflussen das Spielerlebnis, das gilt auch für den Sci-Fi-Blockbuster "Starfield".
Microsoft

Das gilt übrigens nicht nur für "Baldur's Gate 3", sondern auch für ein von Kritikern nicht ganz so sehr gefeiertes, aber dennoch gelungenes Spiel: das Science-Fiction-Rollenspiel "Starfield". Auch hier habe ich mich aus reinem Interesse und entgegen der Anleitung einfach mal als virtueller Taschendieb versucht – nur um dadurch eine zweite Storyline zu triggern, die nicht nur spannender ist als die Hauptgeschichte, sondern diese in vielen Punkten grundlegend verändert: Plötzlich kann dank neuer Allianzen an vielen Stellen auf Gewalt verzichtet werden, wo diese zuvor noch selbstverständlich erschienen wäre.

Keine Lösung, aber Ratschläge

Die Spielwelt kann sich also in beiden Welten radikal ändern durch die Entscheidungen, die von dem Menschen vor dem Bildschirm getroffen werden. Das ist in vielerlei Hinsicht gut, ermöglicht es doch verschiedene Spielerlebnisse und bietet die Chance, nach dem ersten Durchlauf das teuer erworbene Game ein weiteres Mal zu durchlaufen, diesmal mit anderen Entscheidungen und anderen Auswirkungen. Diese Dynamik bedeutet aber auch, dass Komplettlösungen nicht nur wie zuvor erwähnt den Spaß am Entdecken nehmen, sondern auch inhaltlich falsch sind: Wenn meine Feinde plötzlich zu meinen Verbündeten werden, dann brauche ich keine Anleitung mehr dazu, wie ich sie bestmöglich besiege.

Ist somit die Arbeit jener Menschen komplett überflüssig, die zuvor in den Fachmedien die Komplettlösungen geschrieben haben? Nein, sie wird nur eine andere. Denn während die eine Lösung für alle bei solchen Spielen schlichtweg nicht mehr funktioniert, werden Games wie diese durch eben die Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten immer komplexer. Und das erfordert einen entsprechenden Erklärjournalismus, das Darlegen verschiedener Spielmechaniken und deren Auswirkungen. Schließlich bin ich mir rückblickend nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war, mich in "Baldur's Gate 3" freiwillig von einem befreundeten Vampir aussaugen zu lassen. Die Konsequenzen solcher Entscheidungen zu erklären, Tipps zum Start in ein solches Spiel und zur perfekten Ausrüstung zu geben, hier Hilfe zu bieten ist nun mehr denn je Aufgabe der Gaming-Websites-Foren und -Medien.

Oder aber man findet es einfach selbst raus, wenn man das Spiel mit komplett anderen Entscheidungen ein zweites Mal durchspielt. (Stefan Mey, 28.10.2023)