Wie eine wachsende Anzahl an Menschen besitze ich aus einer diffusen Überzeugung heraus keinen Fernseher. Kommt ja eh nur Schrott und das noch nicht mal, wann ich will. Dinge, die die Welt nicht braucht, gereiht auf der Zeitachse – so weit das Klischee. Hinzu kommen die zweifelhaften Objektqualitäten eines TV-Gerätes, das ein rechteckiges, schwarzes Loch in die Wohnung reißt und dort Media-Markt-Stimmung verbreitet. Viel besser (und kultivierter) ist es doch, sich per Laptop bei einem Streamingdienst der Wahl immer frei entscheiden zu können, was man gerade konsumieren möchte, und sich das Ergebnis kraft eines Beamers an die Wand zu werfen. Kino statt Glotze! Jeder ist sein eigener kleiner Programmdirektor.

Die Augen verscrollt, das Popcorn kalt

Nur gibt es da ein kleines Problem: Ich weiß leider oft gar nicht, was ich gerade schauen möchte, zumindest nicht ungestützt. Wird mir aber ein laufendes Angebot gemacht – die "Tagesthemen" mit Ingo Zamperoni, "Bitter Moon" von Roman Polanski oder eine gute Doku über Nofretete, Lawrence von Arabien, Liberace, Mao, Pablo Escobar, Pasolini, Neo Rauch oder die europäische Wildkatze – weiß ich sofort, ob ich mich darauf gerade einlassen möchte – oder eben nicht.

Die Streaming-Realitäten hingegen sehen – sofern man nicht gerade dankbar gehooked von einer Serie ist – eher folgendermaßen aus: Allein – oder schlimmer noch zu zweit – sitzt man vor den unendlichen Weiten der Angebote diverser Dienste und scrollt sich durch deren endlose digitale Setzkästen, vollgepackt mit Filmen, Serien und Dokus. Doch was man auch im Begriff ist auszuwählen, das Glück scheint immer in der nächsten Kachel zu liegen – wie beim Hütchenspiel. Dahinter stapeln sich den Schiffbrüchigen im Meer der Möglichkeiten lamellenweise die Tabs mit Trailern und Bewertungen der angeteaserten Artefakte. Und wir reden hier noch nicht einmal vom second screen.

Mann scrollt am Handy, auf ihm Chips, davor ein Laptop
Am Handy noch schnell die Bewertungen des Films lesen, dessen Trailer man sich am Laptop anschaut – willkommen im Höllenkreis Streaming.
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There is always something better around the corner

Am Ende dieses Jakobswegs einer customer journey sind die Augen verscrollt, der Geist verstrahlt, das Popcorn kalt, die Nerven blank, die Schaulust dahin und allfällige Filmempfehlungen längst verschüttet unter den Impressions-Trümmern aus dem Laptop.

Leben heißt auswählen. Je länger die Anreise zum Produkt, auf welches die verzweifelte Wahl am Ende fällt, desto größer das Misstrauen und die Fomo, mit der es konsumiert wird. War da nicht doch noch etwas besseres, spannenderes, geileres? Etwas, das meine kostbare Zeit wirklich wert ist? Es ist wie auf Tinder – nur mit Filmen oder Serien anstelle von Menschen, die in Watch- statt Matchlisten aufgehängt werden. Der Fluchsegen des Digitalkapitalismus, "There is always something better around the corner", feiert auch hier lange schon fröhliche Urständ. Da bleibt es dann nur ein schwacher Trost, sich das schwer errungene Auswahlresultat mit dem Beamer an die Wand zu werfen. Willkommen im Höllenkreis der endlosen Möglichkeiten.

Weniger Option, mehr Leben

Nach etlichen solcher zweifelhaften Streaming-Genüsse hatte ich bei meinen Schwiegereltern neulich eine regelrecht erhellende Erfahrung mit jener alten und von mir schon fast verlernten Kulturtechnik des linearen Fernsehens gemacht: Es war so einfach wie schön: Nach der Zib (an meine deutschen Leser: Österreichische Tagesschau) kam ein Programmhinweis auf das ORF-2-Format "Universum History", das ich als bis dahin überzeugter Nicht-Fernsehbesitzer noch gar nicht kannte. In dieser Folge ging es um einen gewissen Antoine Köpe, ein französisch-österreichisch-osmanischer Fotograf, Soldat, Karikaturist und Kosmopolit, der als Zeitzeuge und Chronist das Osmanische und das Habsburgische Reich vergehen sah und von in den Wogen der Weltgeschichte wie Treibholz hin- und her gespült wurde. Eine abenteuerlich-ambivalente k. u. k. Figur, die genauso gut aus dem Œuvre Joseph Roths stammen könnte und die auf die ich wohl ohne den Zufall nie gestoßen wäre.

Ich fand das alles toll. Noch toller war nur noch, dass ich mir das alles nicht aktiv im endlosen und algorithmisierten Optionsstrudel von Netflix, Prime und Co. aussuchen musste, sondern mich einfach passiv dafür entscheiden-, ja, einfach daran hängen bleiben konnte. Apropos Algorithmus: Es kann inzwischen sehr wohltuend sein, wenn ein Medium die Konsumenten einmal nicht gleich besser zu kennen glaubt, als diese sich selbst und sie auf Basis vergangener Entscheidungsspuren immer tiefer in ihr vermeintliches Geschmacksghetto einmauert.

Übrigens bin ich wohl nicht der Einzige mit diesen Beobachtungen des Scheiterns an zu viel Option. Sogar Netflix höchstselbst hat daraus seine Schlüsse gezogen und den Bedarf an weniger Auswahl-Qual erkannt. Der Streaminggigant plant, nach einer erfolgreichen Testphase von "Netflix Direct" in Frankreich, das Modell eines linearen Senders innerhalb seines Angebots schon bald international einzuführen. Verglichen mit dem echten Fernsehen ein schwacher Trost. Und dennoch: Wie in vielen anderen Lebenssphären heißt es nun also auch hier: Zurück in die Zukunft! (Alexander Keppel, 9.11.2023)