Alexander Keppel im Gastblog über eine Ausnahmeerscheinung in Deckshoes und Talar.

AfD-affine Wutbürger, politikverdrossene, demokratiemüde, autoritätsgeile Putin-Versteher und Ostalgiker oder einfach (L)ostdeutschland? Über die Bewohner der Neuen Bundesländer gerinnen gerade wieder viele Klischees – die wenigsten davon sind erbaulich. Kommen wir daher doch mal zu einem Hoffnungsträger in einer Region, die viele schon als politisch hoffnungslos abgeschrieben haben.

Über einen befreundeten Autor stieß ich auf das Instagram-Profil des 32-jährigen evangelischen Pfarrers. Seine Auftritte im Oxfordshirt in Montauk beim Genuss einer Lobster-Roll und ein paar Storys weiter wieder mit "Ostdeutschland"-Buckethat beim rührigen Organisieren eines Simson-Moped-Gottesdienstes (Motto: Zwei Takte für ein Halleluja!) irritierten mich auf eine sehr beglückende Weise. Die konträren Pole: Preppy und Ossi, Hochamt und Niederschwelligkeit hatte ich so erquickend ineinander verschränkt noch nie erlebt. Meint der das wirklich ernst?

Mopedgottesdienst: "Zwei Takte für ein Halleluja!"

Wie viel Ironie und wie viel Seriosität stecken in der Figur Geilhufe? Inzwischen kann ich sagen, sehr viel von beidem, aber der Reihe nach:

Meint der das wirklich ernst?

Der behütet in Dresden aufgewachsene Pfarrerssohn studierte Theologie in Princeton, München, Leipzig und Göttingen und hätte sich als junger Pfarrer – weiß Gott – auch woanders niederlassen können als in Mittelsachsen. Selbst Ossi, aus Berlin zwar, aber mit einer ähnlich gearteten, in Wien nicht immer funktionablen Unbefangenheit gesegnet wie Justus, rutschte ich ihm, schwer amüsiert von seinem Account, kurzerhand in die DMs. Wir freundeten uns aus der Distanz an und vereinbarten meinen baldigen Besuch in Großschirma. So machte ich mich also auf die Reise ins von Wien nicht gerade naheliegende Erzgebirge, und ich kann Ihnen versichern, verehrte Leserschaft, es hat sich gelohnt.

Nächster Halt: Freiberg. Oder doch Neukölln? Gab es einen Raum-Zeit-Glitch bei der sächsischen S-Bahn? Unbegleitete Minderjährige in Scharen, Sirenen, Schreie, Einsatzkräfte im Niemandsland zwischen Bahnhof und Rewe. Vorführeffekt oder Realitycheck? Wohl beides. Das pittoreske Bergbau-Städtchen mit seiner Montanuniversität taumelt genauso rast- und ratlos in den Wogen der Globalisierung wie der Rest der Welt. Da stand ich nun: Mein Telefon fiel ins Akkukoma, noch bevor ich Maps starten konnte. Regen setzte ein. Alles wirkte zunächst dermaßen stumpf und abweisend, dass ich mich fragte, ob meine Reise hierher wirklich so eine gute Idee gewesen war. Auch hatte ich mir nicht träumen lassen, dass ich das Wort HALAL hier von so vielen Ladenlokalen lesen durfte.

Das evangelische Wunder von Mittelsachsen

Hinter dem picobello durchrestaurierten, aber fast menschenleeren Marktplatz der historischen Altstadt fand ich endlich zum Freiberger Dom. Dieser war größer als angenommen. Genau wie der über zwei Meter messende Jungpfarrer, der Minuten später – wie von göttlichem Fön getragen – in die Kirche brauste. Das war es also: Justus Geilhufe – das evangelische Wunder von Mittelsachsen. Gut gestriegelt und gebräunt, in oliver Barbour-Steppjacke, eierlikörenen Sommerchinos und ochsenblutfarbenen Deckshoes brauste er in die Kirche, als käme er direkt aus Krachts Faserland. Der ganze Look, der ganze Typ auf den ersten Blick eine herrliche Provokation – Punk von oben, mehr Wessi ging in Sachen Mode eigentlich nicht – vor allem hier, im Stil-Niemandsland, wo man dankbar sein kann, wenn es bei den Marken Camp David und Camel Active aufhört.

West-Östlicher Alman

In seinem sehr unterhaltsamen, gemeinsam mit dem Hamburger "Tagesschau"-Mann Ralph Baudach fabrizierten Podcast West-Östlicher Alman mutmaßte Baudach sinngemäß, dass Justus mit seinem ortsuntypischen Ivy-League-Look wohl die maximale Distanz zur DDR einnehmen wolle – einem Staat, dessen sozialistische Ideologie sich als die Errichtung und Vergesellschaftung des Himmelreichs auf Erden verstand und dem eine sich offen bürgerlich gerierenden Pfarrersfamilie wie die Geilhufes – schon Justus' Vater war Pfarrer – mindestens suspekt war.

Podcast West-Östlicher Alman mit "Tagesschau"-Moderator Ralph Baudach.

An eine Säule gelehnt, beobachtete ich ihn, wie er bestens gelaunt die deutlich bescheidener gewandeten Kirchenmenschen begrüßte, welche den Einlass zur heutigen Abendmusik besorgten. Gleich darauf rauschte er stracks auf mich zu. "Alex!!! Schön, dass du da bist!", hob er seine hohe, aber kraftvolle Stimme. "Ich muss noch schnell rauf zum Kantor! Freie Platzwahl – ich sitze ganz vorne, bis später!", schüttelte er mir herzlich die Hand und flog mit fliegenden Rockschößen hinauf ins Hochschiff zu den Silbermann-Orgeln. Die Irritation über meine durch eine Arztfahrt seiner Praktikantin leider ausgebliebene Abholung vom Bahnhof, über die vielen displaced-people, über die im Osten vor Kraft strotzende AfD, der es die anderen Parteien gerade wirklich leicht machten – für den Moment alles verflogen nach diesem Auftritt"." Alles weggelächelt von diesem, wie mir schien, entweder teilwahnsinnigen oder wirklich inspirierten Gottesmann.

Mein Anfangsverdacht, dass ein weltoffener und geerdeter Konservativer der radikalisierten Höcke-affinen AfD viel mehr entgegenzusetzen hat als ebenso bornierte Cancel-Warriors, welche die Welt, genau wie ihr politischer Gegner, einteilen in ein binäres Gut und Böse, bestätigte sich sofort. Der musikalische Abend begann mit einem Stück von Robert Schumann aus: Kinderszenen op 15, "Von fremden Ländern und Menschen". Passender wäre es wohl nicht gegangen. Nach dem Ende dieser Abendveranstaltung fuhren wir in Geilhufes Grand Cheerokee, (natürlich) mit Sylt-Aufkleber, nach Großschirma ins über 500 Jahre alte Pfarrhaus, das er gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Söhnen bewohnte, die jenes Wochenende aber allesamt bei den Schwiegereltern verbrachten. In meinem Gästezimmer lag ein Tütchen Haribo auf dem Kopfkissen. Ich fand das alles fantastisch.

Wie ein Nutella-Brot, das immer mit der Schokoladenseite nach oben landet

Der nächste Tag begann mit einem gemeinsamen Lauf durch den angrenzenden Pfarrwald und einem üppigen Frühstück – mir schien, Justus hatte den örtlichen Fleischer für uns halbleer gekauft. Angesprochen auf den für die Kirchen bedrohlichen Strukturwandel durch die abschmelzende Zahl von Kirchenmitgliedern, sah er diesem entwaffnend gelassen entgegen. "Wo vieles, was man gewohnt ist, wegbricht, besteht die Möglichkeit, mit Gott gemeinsam auf einem weißen Blatt Papier neu zu malen", so erzählte ein gut gestimmter Justus unter dem Apfelbaum seines entspannt gepflegten Pfarrgartens. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir oder sich etwas vormachte. Im Gegenteil: Er schien einfach überzeugt, dass sich, zumindest im Wirkraum seines geistlichen Amtes, alles zum Guten wenden würde, denn er war sich seiner Kompetenzen und des nötigen Rückenwindes von höherer Stelle sicher.

Justus war wie ein Nutella-Brot, das – entgegen der Physik – immer mit der Schokoladenseite nach oben zu landen vermochte. Das nannte man wohl Glaubenskraft. Ich kam als eine Art Agnostiker light nicht umhin, ein wenig neidisch auf diesen stabilen, spirituellen Hebel in die Zuversicht zu werden. Als Spross einer atheistischen Familie, die an den Sozialismus im Sinne der Erfinder als das – theoretisch – humanere System geglaubt hatte und dann mit ansehen musste, wie es durch seine kleingeistigen und verkalkten Verwalter pervertiert und ausgehöhlt wurde, verfügte ich noch nicht über derartige Lifehacks.

Fankultur, aber normal

Bald arbeiteten wir mit unseren Rechnern – Apfel an Apfel –, sodass eine beinahe Co-Working Space-artige Situation entstand, die aber nichts von dem bestürzenden Habitus jener Orte hatte, die sich tatsächlich so nennen. Als die Anschläge irgendwann langsamer und die Geister matter wurden, war es Zeit. Justus ging in den Keller und kehrte zurück mit einem Fünf-Liter-Fass Radeberger Pilsener in einer Dynamo-Dresden-Edition. "Geschenk meiner Konfirmanden – machen wir heute noch weg", sagte er. "Fankultur – aber normal", entfuhr es mir. Eine uns für den Rest der gemeinsamen Wochenendreise begleitende Headline-Mechanik war geboren. Und zwar nicht irgendeine, sondern eine, die wir der AfD stahlen – kulturelle Wiederaneignung, aber …

Mit ihren dämlichen, aber aus professioneller Sicht wirkungsvollen Claims: "Deutschland, aber normal" und "Vollende die Wende" hatte diese Partei in den ostdeutschen Bundesländern einen Nerv getroffen und leider ziemlich abgeräumt. Nun war es an uns, ihn durch zahllose Spontanadaptionen ins Absurde zu perpetuieren. Und so ging es also dahin: Das Radeberger versiegte bald in unserem Durst, und der Abend verglomm gut gelaunt, aber normal, am Feuer.

Der heutige Waldlauf ging naturgemäß etwas mühsamer von den Beinen. Er führte vorbei an den ehemaligen LPG-Stallungen aus DDR-Zeiten, die den brutalen Geruch von Exkrementen auf Beton konventioneller Nutztierhaltung verströmten. Auch durch den Mund zu atmen war da keine Option. Justus zitierte die Rechtfertigung des Bauerns in dessen niederländischem Idiom: "De Kuh, des is ejin Herdentjier. Der is gans ejgaal, ob de zu fünft oder tausnd im Stall steijht, für die is des gans normaal." Auch ihm steckte das Dynamo-Bier noch in den Knochen. Aufgeben und auslaufen kam für den hochgewachsenen Hirten jedoch nicht infrage. Langsam, aber beharrlich wandte sich Geilhufe mit gequälter Miene über die hügelige Laufstrecke. Es war nun viertel elf: Aus einem flächenversiegelten Vorgarten rief es: "Ümm die Zeit schmeckt däs abbor bessorrr! Hähä!" Eine Bierflasche wurde hochgehalten. Der Pfarrer lachte höflich und winkte den feisten Frühschoppern in ihrer Monobloc-Garnitur zu, so freundlich es eben ging.

Demo gegen das "Bargeldverbot", richtig Stimmung

Beim Zwischenstopp am Geldautomaten meinte Justus: "Wenn du heute für eine, sagen wir … 'Demo gegen das Bargeldverbot!' plakatierst, hast du übermorgen 200 Leute am Start. Hochaggressiv – richtig geil, richtig Stimmung!", lachte er, der sich über die gesinnungspolitischen Abgründe eines beträchtlichen Teiles seiner Landsleute keine Illusionen machte, darüber aber dennoch nicht verzweifelte. Im Gegenteil: Er schien in einer beinahe Schlingensief’schen Manier am kollektiven Wahnsinn nicht zu zerbrechen, sondern dessen tumbe Wucht für sich produktiv umzulegen und mitunter auch ein humoristisches Reservoire daraus zu schöpfen.

Anstatt die Leute top-down abzucanceln, was sich von seiner Kirchenkanzel ohnehin schwieriger gestalten dürfte als von den billigen Social-Media Plätzen, begegnet er den Menschen mit der Neugierde des Forschers und dem Herzen des Priesters. Als jemand, der stets nach den Ursachen auch für den gröbsten Unfug sucht, der sich auch den absurdesten Verschwörungsschwurbel geduldig anhört, den Inhalt aber nicht als Disqualifikationskeule seiner Absender bei gleichzeitiger Selbsterhöhung missbraucht, sondern als Arbeitspaket für seinen Auftrag vor Ort versteht. Selten wurde einer wie er mehr gebraucht als dort und jetzt. (Alexander Keppel, 18.9.2023)