Screenshot
Bei "The Mortuary Assistant" baut sich das Grauen schrittweise auf.
Brian Clarke

Ich liebe Horror – und das in allen Medien. Ich habe mich von Lovecraft bis Ligotti durch die Horrorliteraturgeschichte gelesen, schätze einen klassischen King oder Barker ebenso wie Neues von John Langan oder Maria Enriquez und habe extra für Junji Ito etliche Regalmeter freigemacht. Ich mag im Kino den neuen "Elevated Horror" von "Hereditary" genauso wie die Ernsthaftigkeit von 70er-Jahre-Zombietrash oder den anarchischen Splatter-Slapstick von "Braindead" und finde noch immer Found-Footage-Horror, der mich begeistern kann.

Natürlich ist es müßig, Film, Literatur und Games gegeneinander auszuspielen, denn alle drei Medien haben ihre Stärken. Trotzdem behaupte ich: In Sachen Horror betreten Videospiele immer wieder faszinierend gruseliges Neuland, das gerade Horrorfans elektrisieren muss – und das nicht nur wegen des No-na-Arguments, dass man im interaktiven Medium eben selbst direkter beteiligt ist. Glauben Sie nicht? Oh, we have such sights to show you.

Abseits des Hochglanz-Schreckens

Die großen Hochglanz-Horrorspiele, an die Sie jetzt vermutlich als Erstes denken, haben zu Recht eine weltweite Fangemeinde mit einem - im Vergleich zu anderen Genres - hingebungsvollen Geschichtsbewusstsein. Die ersten Teile der "Resident Evil"-Reihe sind durch großartige Remakes technisch und spielerisch ebenso in die Gegenwart geholt worden wie "Dead Space", auch "Alan Wake" und "Silent Hill" werden aufpoliert.

So gut diese Hochglanz-Blockbuster als Horror-Erlebnisse auch sind: Als millionenschwere Produkte bleiben sie spielerisch meistens eher auf der sicheren Seite. Nicht, dass an den Grundpfeilern etwa des Survival-Horror-Genres, dem die genannten großen Beispiele mehr oder weniger angehören, etwas auszusetzen wäre. Trotzdem schaffen es vor allem kleinere Spiele immer wieder, all jenen, die ausziehen, das Fürchten zu lernen, auch ganz neue Schrecken zu präsentieren.

Nachtschicht beim Bestatter

Wer sich etwa in das letztes Jahr erschienene Indie-Game "The Mortuary Assistant" wagt, bekommt es mit einer Horror-Erfahrung zu tun, die sich schwer bis gar nicht mit denen anderer Medien (und sogar: anderer Horror-Games) vergleichen lässt. Als Bestatterin ist es meine Aufgabe, in einer langen Nachtschicht mehrere Leichname zu präparieren. Auf gewisse Weise ist "The Mortuary Assistant" eine - makabre - Arbeitssimulation aus der First-Person-Perspektive: Ich nähe Augen zu, tackere Unterkiefer zusammen und pumpe Einbalsamierungsflüssigkeit in kalte Körper.

The Mortuary Assistant (FULL GAME)
jacksepticeye

Die Monotonie der von Spielerin und Spieler Schritt für Schritt zu erledigenden Handgriffe wird immer wieder unterbrochen vom anfangs nur unmerklichen Einbruch des Übernatürlichen: Augen, die mich aus dem Schatten anstarren, seltsame Geräusche und Sinnestäuschungen, plötzliche Halluzinationen und tausend kleine Irritationen, die man zum Teil nur unbewusst, aus dem Augenwinkel wahrnimmt.

"The Mortuary Assistant" ist eine Horror-Erfahrung, wie es sie nur in Videospielen geben kann: ein perfider Angriff auf unsere Wahrnehmung, elegant variiert durch eine Zufallsgeneration, dank der wir uns auch bei wiederholten Spielen wirklich niemals sicher sein können, was passiert.

Ein Mythos und seine Erben

Diese Unsicherheit, Horror-Fans wissen es, ist überhaupt einer der zentralen Reize der Beschäftigung mit dem Grauen. So gesehen eine gute Voraussetzung für Innovation, zumindest außerhalb des Mainstreams. Dass etwa Games-Auteur Hideo Kojima 2014 seine radikale Neuinterpretation des Horrors von "Silent Hill" nicht verwirklichen durfte, ist ein Jammer - der "playable teaser", kurz "P.T." seiner Vision vom Horrorspiel war bis zu seiner Entfernung aus dem PlayStation-Store eine der beeindruckendsten Horror-Erfahrungen überhaupt. Der Mainstream war noch nicht bereit, zum Glück gibt’s eine Welt abseits davon.

Silent Hills Playable Teaser - No Commentary
railcs

Denn mit dem 2018 erschienenen "Visage" des kanadischen Indiestudios Sad Square hat Kojimas Vision vom First-Person-Horrorspiel seine bislang überzeugendste Umsetzung in ein ganzes Spiel bekommen, und auch hier gilt: Kein Film, kein Buch und auch kaum ein anderes Videospiel kommt dem Schrecken, der direkt hinter der Banalität eines nächtlichen Hauses lauert, so nahe.

VISAGE 👻 Full Game 👻 4K/60fps 👻 Longplay Walkthrough Gameplay No Commentary
SHN Survival Horror Network

Außer man verzichtet als echter Connaisseur auf jeglichen Grafik-Bling und verliert sich im Arthouse-Horror von "Anatomy" – geradezu ein Showcase für die Macht des Minimalismus, der trotzdem Gänsehaut hervorruft.

Anatomy (Full Playthrough + No Commentary)
scissormon

Der gewöhnliche Schrecken

Überhaupt, Minimalismus: Das Schöne an Games ist inzwischen ja, dass auch kleine Teams oder Einzelentwickler ihre Vision vom Horror relativ einfach verwirklichen können. So lassen sich auch mit bescheidenen Mitteln Gruselerlebnisse umsetzen, die sich zwar an filmischen Horror anlehnen, diesen aber allein durch ihre Struktur als interaktives Erlebnis übersteigen - wie etwa im kostenlosen, erst vor wenigen Tagen erschienenen kurzen Spiel "Teleforum", das von einem brasilianischen Indie-Team stammt.

TELEFORUM Gameplay And Walkthrough All Endings
Lord Datis Gaming

Das Videobild als Inspiration, Vermächtnis und Stilmittel in Horrorgames ist überhaupt ein Immersions-Turbo: Das gruselige Internet-Meme der "Backrooms" wird inzwischen in Dutzenden kleinen und kleinsten Videospielen als Fest des "Liminal Horror" zum Leben erweckt. Wenn Sie nur eins davon spielen, dann am besten das kostenlose "The Complex: Found Footage", eine Übung in sich langsam steigerndem Grauen.

The Complex Found Footage | Full Playthrough | No Commentary
Silent Rabbit Gaming

Eine Welt des Horrors

Die Liste an Videospielen, die den Spaß am Schrecken vom passiven Konsum ganz nah an uns heranholen, ist endlos und voller Subversion, die in Film und Literatur rar geworden ist: "Doki Doki Literature Club", "Pony Island" und "Buddy Simulator 1984" sind regelrechte Mindfucks, Games wie "Scarlet Hollow", "If On A Winter’s Night, Four Travellers" oder "Paranormasight: The Seven Mysteries of Honjo" oder "World of Horror" bleiben gemächlicher, aber nicht weniger originell.

Und, und, und; von den Twitch-Horror-Darlings der schier endlosen Koop-Geisterjagden in "Phasmophobia" & Co ganz zu schweigen. Kein Medium bietet eine größere Bandbreite an Horror-Erlebnissen, nirgends wird so viel experimentiert und an immer neuen Wegen geforscht, uns Angst zu machen. Und wie man an der glorreichen Rückkehr von "Alan Wake 2" aktuell sehen kann, darf sich sogar im AAA-Hochglanz ausgerechnet ein Horrorspiel souverän so manchen Regelbruch erlauben.

Exploring EVERYTHING in the Halloween Update for Phasmophobia
Insym

Deshalb bleibe ich dabei: Wer Horrorfan ist, findet in Videospielen aktuell und vielleicht auf lange Sicht das lebendigste, abwechslungsreichste und furchterregendste Angebot überhaupt. Ja, Games sind das beste Horror-Medium. Ich wünsche schöne Gänsehaut mit den genannten und beinahe endlosen weiteren interaktiven Horror-Erlebnissen – nicht nur zu Halloween. (Rainer Sigl, 29.10.2023)