Pro-Palästina Demo
Ein Pro-Palästina-Demonstrant in New York mit "White Supremacy"-Botschaft.
IMAGO/Michael Nigro

Die Unterstützung linker Aktivistinnen und Aktivisten in aller Welt für die Terrororganisation Hamas und das fehlende Mitleid für die unzähligen israelischen Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober werden als Schandfleck für diese Bewegung in die Geschichte eingehen – vergleichbar mit der einstigen Bewunderung so vieler Linker für Stalin und Mao. Aber wie lässt sich dieser Irrweg von gebildeten Menschen, die eigentlich für eine bessere Welt kämpfen, erklären?

Die oft gehörte Antwort, hier sei Antisemitismus am Werk, mag für viele Muslime mit religiöser oder nationalistischer Gesinnung zutreffen – so etwa auf den Mob, der am Sonntag auf der Jagd nach Juden den Flughafen in der russischen Teilrepublik Dagestan stürmte. Aber Künstlerinnen, Akademiker, Sozial- und Umweltaktivistinnen in Europa und den USA, die die Hamas als Befreiungsbewegung feiern oder ausschließlich die Opfer in Gaza betrauern, haben wenig gemeinsam mit den Vorurteilen ihrer Eltern und Großeltern und wehren sich zu Recht gegen den Antisemitismusvorwurf. Ihnen geht es nicht um Judentum, sondern um den Staat Israel, den sie im Namen des Antikolonialismus bekämpfen.

Idealer Sündenbock

Es ist diese Ideologie, die heute das Denken so vieler Linker prägt. Hier vermischen sich Empörung über globale Ungleichheit, Zorn über Rassismus in den USA, Verdammung amerikanischer Außenpolitik, Hass auf den Kapitalismus und Schuldgefühle gegenüber der eigenen Geschichte. Und da es kaum noch unterdrückte Kolonien in der Welt gibt, wird Israel zur Zielscheibe ihres Engagements, indem alle Ambivalenzen ausgeblendet werden.

Nun mag es zwar manche Parallelen zwischen dem Zionismus und der kolonialen Besiedlung etwa von Nordamerika geben, aber Israel ist kein Kolonialstaat. Es reicht, dass das Land wohlhabend, westlich und mit den USA verbündet ist – und durch seine Besatzungspolitik Unrecht an einer ärmeren Volksgruppe begeht, die zum Globalen Süden zählt. Das macht es zum idealen Sündenbock für jene, die die Welt zwischen Täter und Opfer aufteilen. War einst der marxistische Klassenkampf die Brille, durch die radikale Linke die Welt sahen, ist es nun eine antirassistische Identitätspolitik.

Symptom einer tiefen intellektuellen Krise

Absurderweise gewinnt die Beschäftigung mit Kolonialismus an Intensität, je weiter diese Epoche zurückliegt – und wird zur fehlgeleiteten Obsession. So übel die Politik der Europäer auch war, sie war nicht das einzige Übel. Die Kolonialmächte verdrängten andere Unterdrückungsregime, die eine Ausbeutung wurde durch eine andere ersetzt. Und seit der Entkolonialisierung nach 1945 sind in weiten Teilen der Welt – von China über den Iran bis Afrika und Lateinamerika – neue Tyrannen am Werk, für deren Untaten die westlichen Staaten keine Schuld tragen. Gerade in Afrika dienen die Schuldzuweisungen an den Westen den regionalen Potentaten als Vorwand für Korruption, Intoleranz, Hetze und Repression.

Aber wer die Welt in gutes Schwarz und böses Weiß teilt, der muss davor die Augen verschließen. Der muss sich selbst mit mörderischen Islamofaschisten wie der Hamas solidarisieren und darf kein Mitleid mit deren Opfern zeigen.

Die antiisraelischen Demonstrationen und Aufrufe sind daher Symptom einer tiefen intellektuellen Krise von eigentlich progressiven Kräften, die damit ihre moralische Legitimität verlieren. (Eric Frey, 30.10.2023)