Staubsaugerroboter und Katze
In vielen Häusern und Wohnungen haben Staubsaugerroboter Einzug gehalten. Berichten zufolge bauen manche Besitzer und Besitzerinnen eine gewisse Bindung zu den kleinen Haushaltsgeräten auf.
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Ich habe meine Eingangstür offen gelassen und mein Roomba ist einfach raus und ich kann ihn nicht mehr finden. Was hat das für Folgen? Er hat keine natürlichen Feinde." Mit diesem Internet-Posting beginnt Pauline Briand ihr Essay "Über Feralität". Es ist anekdotisch belegt, dass Menschen, die einen selbstfahrenden Roboter zum Staubsaugen beauftragen, eine gewisse Bindung zu der kleinen runden Scheibe aufbauen.

Dass der Roomba – so die geläufigste Bezeichnung des Saugroboters nach einer populären Marke – zum Beispiel den Stellenwert eines Haustiers einnehmen kann, zeigen auch die Flyer, die Briand gesammelt und zu ihrem Essay gestellt hat. Sie suchen nach "entlaufenen" Staubsaugern, die nun hilflos der Wildnis ausgesetzt seien. Der verlorene Gefährte beiße nicht, sei kastriert und werde schmerzhaft vermisst. "Das Ferale kann auch daraus resultieren, dass ein domestiziertes Tier entkommt, überlebt und wieder zu einem wilden wird", schreibt Briand.

Bestiarium des Anthropozäns

Feralisierung werfe neue Fragen zum Verhältnis zwischen Menschen und Tieren auf. Wenn die Autorin diese ausgehend von verwilderten Roombas stellt, fragt sie gleichzeitig danach, was "Natur" heute überhaupt noch meinen kann. Diese Frage steckt auch im Kern des Buchs "Ein Bestiarium des Anthropozäns", das von dem Anthropologen und Designforscher Nicolas Nova und dem Kunstkollektiv Disnovation.Org herausgegeben wurde. Darin finden sich Essays wie jener über die feralen Roombas.

Der Hauptteil des Buchs besteht aus 60 Steckbriefen von "Wesen, mit denen wir koexistieren und die, manchmal ohne, dass wir es bemerken, nicht mehr ganz so natürlich sind, sondern teilweise oder sogar vollständig künstlich", beschreibt Nicolas Maigret im STANDARD-Gespräch. Der Medienkünstler und Kurator ist Teil von Disnovation.Org und war beim heurigen Donaufestival in Krems zu Gast, wo das Kollektiv das Bestiarium als raumgreifende Ausstellung präsentierte. Man sah etwa einen bunt schillernden Klumpen Fordit, auch Motor-City-Achat genannt, das in der frühen Autoindustrie entstand. Der Bestiarium-Eintrag erklärt: "Fordit-Steine bestehen aus mehreren Farbschichten von den Aufbock-Vorrichtungen, auf denen Autos früher von Hand spritzlackiert wurden. Diese mehrlagige Emaillefarbe wurde immer wieder gebrannt und dadurch ausgehärtet, weshalb sie zersägt, geschliffen und zu Schmuck verarbeitet werden kann."

Fordit, Spezimen N°5, zählt im Bestiarium des Anthropozäns zum neuen "Naturreich der Mineralien". An die Klassifikationen mittelalterlicher Naturbeschreibungen angelehnt, folgt das "Naturreich der Tiere". Es beginnt mit einem Meereswasserläufer, der Plastikmüll als neuen Lebensraum nützt, und endet mit dem Erfolgshaustier der 90er-Jahre Tamagotchi, das Millionen von Kindern lehrte, "virtuelle Wesen großzuziehen und mit ihnen zu leben", und so den Weg für unsere Interaktionen mit virtuellen Assistenten gebahnt habe. Im "Naturreich der Pflanzen" geht es von viereckigen Wassermelonen, über Kunstrasen zu Antennenbäumen, also als Pflanzen getarnte Mobilfunktürme. Unter "Naturreich des Sonstigen" werden Phänomene wie Schwarzschimmel, radioaktive Pilze, Kunstschnee und Kondensstreifen beschrieben.

Kondensstreifen
Kondensstreifen am Himmel sind kein außergewöhnliches Bild mehr. Sie sind auch ein Beleg dafür, wie sehr menschliches Handeln die Erscheinung unsere Umwelt prägt.
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"Wir fragten uns, auf welche Art und Weise die künstliche Natur unserer Zeit übersetzt werden könnte, also die Tatsache, dass vielleicht alles auf diesem Planeten inzwischen in irgendeiner Form künstlich ist", erklärte Maigret und spricht damit auch an, dass es inzwischen unmöglich ist, Orte auf diesem Planeten zu finden, auf die menschliche Aktivitäten keinen Einfluss hatten. Auch auf den höchsten Berggipfeln hängt Luftverschmutzung in den Flechten, auch das Eis der Pole enthält Mikroplastik, auch der Boden der Meere ist von Kabeln durchzogen.

Diese Diagnose fasst der Begriff Anthropozän zusammen, der seit gut 20 Jahren einen immer weiter um sich greifenden Diskurs erzeugt und einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Wissenschaft und Kunst hat. Aber was wurde eigentlich aus dem Anthropozän? Schließlich handelt es sich um den Vorschlag, das aktuelle Erdzeitalter neu zu benennen, um den Einfluss des Menschen auf den Planeten zu betonen. Tatsächlich ist seit fast 15 Jahren die Anthropocene Working Group, ein weltweiter Zusammenschluss von Forschenden aus verschiedenen Erdwissenschaften, damit beschäftigt, Argumente und Beweise dafür zu finden, dass das Anthropozän geologisch eindeutig identifizierbar ist.

Die Benennung eines Erdzeitalters ist für die Geologie nichts Neues. "Dafür gibt es eine eigene, ganz normale Bürokratie", erklärt Anna Echterhölter, Wissenschaftshistorikerin an der Universität Wien. In der Definition des Anthropozäns gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Hier wird nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft geologisch untersucht. Damit unternimmt die Geologie, die traditionell weit in der Zeit zurückblickt, eine wissenschaftsbasierte Spekulation über die Zukunft. Der Auftrag ist, festzustellen, ob das Anthropozän eigenständige Merkmale besitzt, sodass eine archäologische Untersuchung auch in Tausenden, besser noch Millionen von Jahren die aktuell entstehenden Erdschichten identifizieren könnte.

Skipiste mit Kunstschnee in grüner Landschaft
Ein zunehmend gewohnter, wenn auch eigenartiger Anblick: Inmitten grüner Hänge ziehen sich Skipisten aus Kunstschnee als weiße Bänder durch die Landschaft.
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Vom Begriff zur Diagnose

Bestimmte Formen der Radioaktivität gelten als besonders vielversprechende Marker des Anthropozäns, aber die Entscheidung, ob die derzeitige Epoche umbenannt wird, ist noch nicht gefallen. In jedem Fall habe der Begriff eine Eigendynamik bekommen, sagt Echterhölter, die an der Uni Wien das Vienna Anthropocene Network mitaufgebaut hat und hierzu mit Netzwerken in London und Berlin kooperiert. Inzwischen gebe es eigene Institutionen und Lehrstühle, die das Anthropozän im Titel tragen. Sie sind Ausdruck eines engagierten Zugangs innerhalb des akademischen Betriebs, wie die Wissenschaftshistorikerin beobachtet: "Anthropozän-Netzwerke an Universitäten haben die klare Absicht, gesellschaftlich wirksam zu werden." Das Anthropozän präge nicht nur eine öffentliche Debatte, sondern habe ganze Fachbereiche und ihr Selbstverständnis verändert.

"Die Geologie wird hier zur politischen Wissenschaft", erklärt Anna Echterhölter. Denn das Anthropozän ist niemals nur eine neutrale Beschreibung, sondern eine Diagnose, die die Auswirkungen menschlicher Handlungen im Blick hat. "Der Mensch wird zu einer geologischen Kraft, die Steine formen kann und die Zusammensetzung von Erdschichten sichtbar verändert. Das bringt das mineralogische Vokabular an seine Grenzen." Diese Grenzen loten auch künstlerisch-forschende Projekte wie "Ein Bestiarium des Anthropozäns" aus. Das Buch ist eine schön aufbereitete Liste an Phänomenen, die auf eine so spezielle und zeitgenössische Weise seltsam sind, dass ihre Zusammenstellung einen Eindruck davon geben kann, welche Denkaufgaben uns das Anthropozän aufgibt. (Julia Grillmayr, 5.11.2023)