Auf der letzten Station seiner Nahost-Krisendiplomatie war US-Außenminister Antony Blinken am Montag in der türkischen Hauptstadt Ankara. Er versucht zurzeit von Zypern, Jordanien und dem Irak Unterstützung für die amerikanischen Bemühungen einer humanitären Feuerpause zu gewinnen. Doch statt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu sprechen, musste Blinken mit seinem Außenministerkollegen Hakan Fidan vorliebnehmen. Erdoğan hatte schon am Sonntag öffentlich mitgeteilt, er werde Blinken nicht empfangen. Er sei zurzeit auf einer Reise am Schwarzen Meer und gedenke nicht, für den US-Außenminister extra nach Ankara zu kommen.

Die türkische Polizei hat vor dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik Wasserwerfer gegen Demonstranten eingesetzt.
Die türkische Polizei hat vor dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik Wasserwerfer gegen Demonstranten eingesetzt.
IMAGO/Mustafa Kaya

Ein gezielter Affront, der dazu führte, dass auch sein Gespräch mit Hakan Fidan wohl im Austausch von bekannten Positionen bestand, sodass im Anschluss nicht einmal eine gemeinsame Pressekonferenz stattfand. Blinken sagte nach dem Gespräch, er gehe davon aus, dass es in den nächsten Tagen mehr humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen geben werde. Mit Zypern sei ein humanitärer Schiffskorridor verabredet worden, und Jordanien hat Hilfsgüter aus der Luft über Gaza abgeworfen.

Waffenstillstand gefordert

Erdoğan fordert seit dem Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen einen sofortigen Waffenstillstand. Eine humanitäre Feuerpause, wie die USA sie wollen, reicht ihm bei weitem nicht, obwohl der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst diese gegenüber Blinken ablehnte. Genau wie der jordanische König und der Ministerpräsident des Irak verurteilt Erdoğan den massiven Angriff der israelischen Armee auf den Gazastreifen als "Kriegsverbrechen" und verlangt von den Amerikanern, dass sie Netanjahu sofort stoppen sollen.

Nachdem Erdoğan sich unmittelbar nach dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten am 7. Oktober noch als Vermittler angeboten hatte, der mithelfen wollte, die über 200 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln wieder freizubekommen, hat er nach und nach seine Position radikalisiert und unterstützt nun mehr oder weniger offen die Hamas.

US-Außenminister Antony Blinken traf am Montag in Ankara seinen türkischen Amtskollegen Hakan Fidan.
US-Außenminister Antony Blinken traf am Montag in Ankara seinen türkischen Amtskollegen Hakan Fidan. Herausgekommen ist bei dem Gespräch nicht viel.
EPA/NECATI SAVAS

In einer Rede vor einer guten Woche nannte er die Hamas "Freiheitskämpfer", von den israelischen Opfern war da schon lange keine Rede mehr. Sei es, weil Erdoğan gemerkt hat, dass er im aktuellen Nahost-Krieg als Vermittler keine Rolle spielen kann, sei es, weil Netanjahu das Angebot der Hamas, alle Geiseln gegen alle rund 6.000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen auszutauschen, kategorisch ablehnt, ist Erdoğan nun im Kampfmodus gegen Israel und die USA als wichtigste Unterstützer Israels.

Weiter diplomatische Beziehungen

Schon vor Tagen hatte er angekündigt, Netanjahu "nie mehr" sprechen zu wollen, gleichwohl die diplomatischen Beziehungen zu Israel aber nicht gänzlich abzubrechen. Zwar sind sowohl der israelische Botschafter aus Ankara und der türkische Botschafter aus Tel Aviv längst zurückgerufen worden, doch ein türkischer Geschäftsträger ist nach wie vor in Israel.

Mittlerweile ist Erdoğan auch innenpolitisch unter Druck. Zahlreiche islamistischen Gruppen, die alle zum Unterstützerumfeld Erdoğans gehören, demonstrieren längst unter der Parole "Tod Israel", und sein Koalitionspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, forderte gar, türkische Soldaten an die Seite der Hamas nach Gaza zu schicken. Jetzt wird Erdoğan die Geister, die er einst rief, nicht mehr los.

Aus Protest gegen den Besuch von Antony Blinken organisierte die islamische Wohlfahrtsorganisation IHH am Wochenende einen türkeiweiten Marsch zum Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik an der türkischen Südküste bei Adana.

Incirlik ist eines der wichtigsten Drehkreuze der US-Luftwaffe für den Nahen Osten. Von hier starteten die Kampfjets gegen den IS in Syrien und Irak, und schon bei den Irakkriegen der beiden Bush-Präsidenten spielte Incirlik eine tragende Rolle.

Tote auf dem Schiff Mavi-Marmara

Die IHH wurde als Organisation international bekannt, als sie 2010 eine Schiffsflotille organisierte, die die israelische Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte. Die Flottille wurde von der israelischen Marine vor Gaza, aber noch in internationalen Gewässern gewaltsam gestoppt, dabei wurden zehn türkische Aktivisten auf dem Führungsschiff Mavi-Marmara getötet. Die Aktion bekam vor 13 Jahren weltweite Aufmerksamkeit und war mit ein Hauptgrund für den zeitweiligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel. Jetzt wollte die IHH mit ihrem Marsch auf Incirlik Ähnliches wiederholen.

Tatsächlich versuchten am Sonntag tausende islamistische Demonstranten den Zaun rund um den Militärflughafen zu durchbrechen. Die Polizei musste Wasserwerfer und Tränengas einsetzen, um das Schlimmste zu verhindern. Zeitgleich versuchten IHH-Anhänger am Sonntag und Montag US-Einrichtungen in Ankara zu blockieren und zu belagern. Wieder musste Erdoğan gegen seine eigenen Anhänger die Polizei einsetzen. Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass er sich lieber nicht persönlich mit dem US-Außenminister blicken lassen wollte.

Streit um Kurden

Die Türkei hat aber auch jenseits des Krieges zwischen Israel und der Hamas noch weitere tiefgreifende Konflikte mit ihrem Nato-Partner USA. Seit Jahren beklagt die Türkei die amerikanische Unterstützung für die Kurden in Syrien, die gemeinsam mit US-Truppen den IS bekämpft haben, weil Ankara der Meinung ist, die kurdisch-syrischen Milizen seien ein direkter Ableger der PKK-Separatisten, gegen die die türkische Armee seit nunmehr fast 30 Jahren kämpft.

Darüber hinaus hängt der Nato-Beitritt Schwedens immer noch an einem positiven Votum des türkischen Parlaments, das Erdoğan zum Ärger Washingtons hinauszögert, weil der US-Kongress nach wie vor nicht der Lieferung von Kampfjets des Typs F-16 an die türkische Armee zugestimmt hat. Mit seinem Konfrontationskurs gegen die USA und den Westen insgesamt entfernt Erdoğan die Türkei allerdings immer mehr von den übrigen Nato-Mitgliedern. Und seine Weigerung, Blinken zu empfangen, wird nicht dazu beigetragen haben, dass sich US-Präsident Joe Biden dazu überreden lässt, Erdoğan direkt in Washington zu empfangen, was dieser schon lange anstrebt. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 6.11.2023)