Hier und dort ist jetzt vermehrt von Friedensbemühungen die Rede, wo doch die längste Zeit das alles beherrschende Narrativ der Krieg war, der bedingungslose Krieg gegen den Aggressor. Als einziger Weg zum Frieden war der finale Sieg der Ukraine ausgegeben; dieser sei mit allen Mitteln anzustreben. Alles andere sei Defätismus, Drückebergerei – moralisch jedenfalls von Übel.

Nunmehr macht sich zaghaft die Ansicht breit, dass trotz des kein Opfer scheuenden Kampfes der Ukrainer gegen den Aggressor ein finaler Sieg, der die Wiedererringung aller Gebiete, die Krim inklusive, zum Ziel hat, unrealistisch sein dürfte. Mittlerweile scheint klar geworden zu sein – insbesondere auch der US-Regierung –, dass man Russland zwar auf dem Schlachtfeld in Bedrängnis bringen kann – und wie! –, dass man Russland zwar demütigen kann – und wie! –, dass man Russland aber kaum endgültig besiegen kann. Mit Russland ist nach einem wie immer zu Ende gegangenen Krieg jedenfalls zu rechnen, auf irgendeine Art wird man sich arrangieren müssen. Das zerrissene Sicherheitsnetz zwischen Russland und Europa wird neu zu knüpfen sein, freilich unter Berücksichtigung der speziellen Interessen und Bedürfnisse der Ukraine.

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Ist die Ukraine bald Mitglied? EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bei Präsident Selenskyj.
Foto: Imago / Ukrainische Präsidentschaftskanzlei

Es wird zwar immer wieder betont, dass das eröffnende Wort zu Friedensbemühungen von der Ukraine ausgehen müsse. Dabei ist klar, dass ohne die fortgesetzte Unterstützung durch Europa und insbesondere die USA die Ukraine trotz aller Entschlossenheit wohl bald auf die Verliererstraße gedrängt werden würde.

Schön gemaltes Idealbild

Der Krieg im Nahen Osten kommt für die Ukraine zur Unzeit. Eine gewisse Ermüdung der öffentlichen Meinung in Europa, aber auch in den USA, bekommt dadurch weitere Nahrung. Die hohen Erwartungen, die an die Offensive der Ukraine geknüpft waren, haben sich nicht oder kaum erfüllt, die Getreideimporte aus der Ukraine Richtung EU haben zu Abgrenzungseffekten, wo nicht Verstimmung geführt – insgesamt ein eher trübes, ein herabstimmendes Bild: Die zeichnende Hand der Geschichte hat, metaphorisch gesprochen, mit groben Strichen das schön gemalte Idealbild des Verhältnisses der Ukraine zum Westen bereits empfindlich entstellt.

"Moral und Machtdenken, kommt mir vor, verschmieren sich hier bis zur Unkenntlichkeit."

Umso mehr erstaunt die Wortmeldung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Die Ukraine hat bereits über 90 Prozent des Weges hinter sich, erfüllt die Aufnahmebedingungen in die EU fast komplett." Wie denn das? Ein Wunder unter Kriegsbedingungen? Sofort fällt die Tatsache ins Auge, dass die Balkanländer sich seit vielen Jahren um Aufnahme in die EU bemühen, dabei durchaus Reformfortschritte vorweisen können, freilich von Land zu Land verschiedenen Grades: In ihrem Fall ist von Aufnahmereife, mit Ausnahme von Nordmazedonien, aber auch gar nichts zu hören. Wie von selbst stellt sich daher die Frage: Ist für den Aufnahmeprozess etwa doch entscheidend, welches wirtschaftliche oder geopolitische Momentum ein Kandidat hat oder zumindest zu haben verspricht? (Die Bedeutung der Ukraine in Sachen Nahrungsmittelsicherheit für die Welt ist unlängst erst deutlich zutage getreten. Die Klimaentwicklung, um es neutral zu sagen, wird diese Bedeutung noch steigern.) Wo, Frau von der Leyen, sind zudem die Belege für Ihre Behauptung? Moral und Machtdenken, kommt mir vor, verschmieren sich hier bis zur Unkenntlichkeit.

Dazu kommt: Es gibt Interessen, speziell von den USA und Russland geteilt, die weit über den Krieg in der Ukraine hinausgehen:. Wie sieht das globale Spiel der Mächte aus? Wer gegen wen, wer mit wem? Kann es etwa im Interesse der USA, im Interesse Russlands sein, den Aufstieg von China, den Aufstieg Indiens dadurch zu befördern, dass man sich gegenseitig in den Haaren liegt und darüber die Weltsekunde, das Entscheidende verschläft? Wer würde denn auch, letzte Frage, von einem vollständigen Sieg über Russland, so er denn erreicht werden könnte, letztlich profitieren? Wer würde mitprofitieren?

An der Seitenlinie

Europa steht, was den Krieg in der Ukraine betrifft, trotz allen Engagements wohl eher an der Seitenlinie, spielt nicht gleichberechtigt mit, muss aber sehr wohl mit den Folgen fertigwerden. Das gilt, wie leicht zu sehen, auch für den Nahostkonflikt. Das Streben nach Rechtlichkeit, nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit kann zwar nicht hoch genug veranschlagt werden, moralische Standfestigkeit sollte aber nicht mit Überlegenheit in jenen Dingen verwechselt werden, die im Machtspiel zählen und tatsächlich zu Buche schlagen. Das sind, leider, zwei Paar Schuhe.

Keineswegs soll hier die wirtschaftliche Macht der EU kleingeredet werden. Gerne möchte ich auch glauben, dass Europa wieder weltpolitisches Momentum gewinnen kann, was wohl, wenn überhaupt, nur über Erfindergeist, kombiniert mit demokratischem Aufbruch, zu erreichen wäre – gegenwärtig sieht es nicht danach aus. Ich sehe ein vergangenheitsverfangenes, technisch zum Teil, Stichwort etwa Digitalisierung, abgeschlagenes Gebilde vor mir, von inneren Widersprüchen vielfach zerrissen, von institutioneller Trägheit beschwert, von der engen, derzeit wohl alternativlosen Allianz mit den USA zusätzlich gegängelt.

Unselige Lieferpflicht

Um es ganz deutlich zu sagen: Unterstützung für die Ukraine tut not und ist in jeder Hinsicht zu begrüßen – uneingeschränkt. Was aber ebenso gerechtfertigt ist, ist die Frage nach den Motiven für diese Unterstützung und Hilfestellung, nach einer genauen Darstellung von machtmäßigen, speziell auch ökonomischen Interessen, für die das Militärische bloß Folie ist. Die Bürgerinnen und Bürger der EU, die mit ihrem Steueraufkommen für die Hilfsmaßnahmen aufkommen, haben ein Recht auf Information, auf Offenlegung. Stimmungsmache à la von der Leyen, kombiniert mit den Forderungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr, kommt gar nicht gut, verstärkt bloß eine Art von unseliger Lieferpflicht für das tapfere, bedrohte und gequälte ukrainische Volk nach dem Schema: Wir liefern unsere Waffen – ihr liefert den Sieg über Russland.

Das Gebot der Stunde? Realismus vor allem. Besinnung. Kein Propaganda-Gedröhn! Verstärkung der diplomatischen Bemühungen auf allen Ebenen und Kanälen, insbesondere Ausarbeitung von künftigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Verständigung auf Kriegsziele, die erreichbar sind. Entwurf einer Nachkriegs-, um nicht zu sagen Friedensordnung, die die Erreichung gewisser Ziele freilich in die Zukunft wird verschieben müssen, dafür aber ein Ende der Gewalt versprechen kann, ein Ende von Tod und uferlosem Leid, den Ausblick in eine freundlichere Zukunft. (Peter Rosei, 11.11.2023)