Die jüdischen Synagoge im Wien
Die jüdische Synagoge in Wien wird seit der Erhöhung der Terrorwarnstufe mit Unterstützung des Bundesheeres bewacht.
APA/GEORG HOCHMUTH

Für Israelis gilt eine neue Reisewarnung – eine weltweite. Der israelische Nationale Sicherheitsrat erklärt sie mit den "lebensgefährlichen gewalttätigen Angriffen auf Israelis und Juden in der ganzen Welt". Seit dem Überfall der palästinensischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober und der darauf folgenden Militäroperation Israels im Gazastreifen mehren sich die Berichte über bedrohte jüdische Studierende an Universitäten, mit Davidsternen markierte Häuser und auf Synagogen geworfene Brandsätze. In Frankreich wurde kürzlich eine 30-jährige Jüdin in ihrer Wohnung niedergestochen, der Täter hinterließ ein Hakenkreuz an ihrer Tür.

Auch in Österreich haben antisemitische Vorfälle seit dem Krieg im Nahen Osten stark zugenommen. Die Israelitische Kultusgemeinde in Wien meldete allein in den ersten beiden Wochen nach dem Hamas-Blutbad eine Verdreifachung der Meldungen. Sie handeln von eingeschlagenen Fensterscheiben in einer koscheren Bäckerei, von die Shoah glorifizierenden Hassbotschaften in Social Media oder gewaltverherrlichenden Beschimpfungen an Schulen. Der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister spricht von einem "Paradigmenwechsel, was unser Selbstverständnis betrifft, hier in Sicherheit leben zu können".

Schätzungen gehen von rund 15.000 in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden aus, die meisten sind in Wien zu Hause. DER STANDARD hat nachgefragt, wie sich ihr Leben hierzulande seit dem 7. Oktober verändert hat. Viele wollten aus Angst gar nicht reden. Jene Personen, die zu einem Gespräch bereit waren, nennen wir nicht mit vollem Namen.

Miryam L. (31), Politikwissenschafterin in Wien

Ich bin traurig, unsicher, habe ein Gefühl der Unfassbarkeit nach den Reaktionen auf die Attacke in Israel und den antisemitischen Vorfällen in Europa vom ersten Tag an. Ich werde immer paranoider. Ich bin nicht religiös, aber ich habe mir schon öfter gedacht, dass es gut ist, dass man mir nicht ansieht, dass ich Jüdin bin. Ich trage keinen Schmuck und keinen Schal, mit dem ich zu orientalisch aussehen könnte. Ich habe begonnen, abends meine Rollos zuzu­machen aus Angst, dass jemand ­einbrechen könnte, während ich koche, Zähne putze, schlafe.

Als Jüdin in Österreich geht mir das, was gerade passiert, so nahe, weil so etwas schon einmal passiert ist. Das kollektive Trauma des Holocaust ist Realität auch in meiner Familie. Wenn ich ein Hakenkreuz sehe, wenn die Israel-Fahne heruntergerissen wird, dann macht mir das große Angst. Ich fand die Worte der Politik nach dem Hamas-Angriff stark. Ich glaube nicht, dass es leere Worte waren, jetzt findet aber ein Test der Worte statt, wie mit sie Anti­semitismus umgeht.

Von der progressiven Linken, als deren Teil ich mich selbst ge­sehen habe bisher, fühle ich mich komplett verraten. Falsch verwendete Pronomen lassen sie nachts nicht schlafen, aber wenn der jü­dische Friedhof angezündet wird, schweigt sie. Bei Antisemitismus hat die Linke, die eigentlich für Minderheiten kämpft, einen blinden Fleck. Ich will nicht, dass man nicht auf Gaza blickt, die Situation dort ist schrecklich. Man soll Gaza nicht das Scheinwerferlicht wegnehmen, aber beide Seiten brauchen Scheinwerferlicht. Das sollte kein Wettbewerb sein.

Michael L. (71), Ökonom in Wien

Ich bin natürlich besonders von den Entwicklungen bedrückt, aber vorwiegend darüber, dass man wegkommt von einem möglichen Pfad der Verständigung und einer Lösung des Konflikts. Ich versuche, die unterschiedlichen Narrative zu verstehen und auch im Gespräch mit meinen jüdischen Freunden in diese Richtung zu gehen. Es wäre wichtig, Initiativen zu starten, bei denen beide Seiten einander ohne Anfeindungen erzählen, wie die jeweilige Familiensituation in Nahost ist, wie man die Lage in Österreich erlebt oder wie die Medienberichterstattung jeweils wahrgenommen wird.

Gewalt führt immer dazu, dass das Sicherheitsbewusstsein alles in den Schatten stellt und man nur das eigene Leid sieht – auf beiden Seiten. Es ist schwer, da wieder ­herauszukommen. Ich sehe derzeit eine sich verfestigende Lager­mentalität, schon kleine kritische Abweichungen von den jeweiligen Positionen werden als problematisch gesehen.

Ich bin in der jüdischen Community verankert, habe aber selbst nie starke antisemitische Erlebnisse gehabt, jedenfalls keine bedrohlichen. In der jetzigen aufgeheizten Situation kann es durchaus sein, dass es Attacken gibt, jemand eine Bombe wirft, aber ich glaube, dass es in Österreich zumindest momentan einen Sicherheitsapparat gibt, der uns schützt. Man hofft, dass Beruhigung eintritt. Aber ­gerade ist, glaube ich, der Höhepunkt in einer aufgeheizten Atmosphäre. Es sollte dann die Gelegenheit wahrgenommen werden, nach dieser aufrüttelnden Krise auch außerhalb des Nahen Ostens forciert an einer Lösung des Konfliktes zu arbeiten.

Daniela M. (38), Büroangestellte in Wien

Mir geht es nicht so gut. Ich war bisher immer der Typ, der Vorfälle von sich abperlen hat lassen. Ich dachte auch, dass es hier sicher ist. Ich bin jetzt ordentlich nervös und unruhig.
Es ist eine diffuse Angst, weil das Gefühl da ist, dass es nicht eine einzelne konkrete Bedrohung gibt, sondern multiple nebulöse Faktoren von überall. Es sind jetzt auch Leute und Orte betroffen, von denen ich bisher dachte, sie sind unantastbar.

Zum Beispiel der Brandanschlag auf dem jüdischen Friedhof: Wir haben alle Familienmitglieder dort, das fühlt sich sehr persönlich an. Das ist nicht weit weg, das ist
verdammt nahe. Und es ist jeden Tag etwas Neues, vieles davon im Ausland, aber auch viel in Wien. Ich komme nicht nach, das alles emotional zu verarbeiten. Es sind auch viele bedrückt, von denen ich das sonst nicht gewohnt bin.

Ich bin säkular und schaue nicht aus wie die typische religiöse Person, ich trage Hosen und keinen religiösen Schmuck, bin blond. Im Alltag hat sich für mich wenig geändert. Aber ich achte mehr auf Dinge, bin in permanenter subtiler Alarmbereitschaft. Man bemerkt jetzt viel mehr Hakenkreuze in der Stadt. Was manche Aussagen zu Israel angeht, die Gleichsetzung von Informationen – von Angaben von staatlichen Stellen und von Terrorpropaganda –, das habe ich mir von manchen in der österreichischen Öffentlichkeit nicht erwartet. Man fühlt sich hilflos und alleingelassen. Am ehesten hilft mir im Moment, mich ins Private zurückzuziehen, zu meinem Partner und Hund, die Nachrichten abzudrehen und die Reizüberflutung auszuschalten.

Ruth L. (52), Kulturvermittlerin in Graz

Mir geht es nicht gut – angesichts dessen, was im Nahen Osten passiert, aber auch aufgrund der damit einher­gehenden politischen Tendenzen in der westlichen Welt. Der Antisemitismus, der bisher in manchen Milieus eher subtil vorhanden war, wird gerade deutlich zutage gefördert, und das in unterschiedlichen Spektren. Ich merke ganz deutlich, dass ich vorsichtiger geworden bin. Wobei jüdische Institutionen in Europa schon seit Jahren davor warnen, in der Öffentlichkeit ­jüdische Symbole zu tragen.

Seither überlegt man sich schon, vielleicht keinen Davidstern zu tragen, sondern andere jüdische Symbole, die einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Die Warnungen kommen jetzt vermehrt und klarer. Seit dem 7. Oktober spüre ich auch unmittelbar, was in der Fachwelt als transgenerationale Retraumatisierung bezeichnet wird und was Jüdinnen und Juden betrifft mit einer Familiengeschichte, die in die Shoah zurückgeht. Das ist bei mir väterlicherseits der Fall.

Mit dem Angriff auf Israel war es für mich wieder spürbar, dass die jüdische Geschichte auch eine Flucht- und Opfergeschichte ist. Ich bin schreckhafter geworden, zucke in der Öffentlichkeit schneller zusammen, beispielsweise wenn jemand laut telefonierend an mir vorbeigeht. Ich mache seit 15 Jahren Vermittlungsarbeit zum ­Judentum, lange stand dabei die jüdische Kultur und Tradition im Mittelpunkt. Erinnerungs- und Gedenkkultur, Antisemitismusprävention sind in den letzten Jahren schon mehr geworden. Jetzt wird viel zum Nahostkonflikt nach­gefragt, vor allem im schulischen Kontext.

Jonatan (31), Jurist in Wien

Ich war am 7. Oktober in Nepal, und ich bin gerade noch auf Reise. Ich bin also gerade weit weg und gleichzeitig nah dran, weil ich die Nachrichten und Social Media verfolge, Kontakt halte mit Familien und Freunden in ­Israel. Ich glaube aber, dass ich mich zurück in Wien um einiges sicherer fühlen werde, als es anderswo wäre. Ich habe in Wien noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich jüdischer Abstammung bin, und habe noch nie ein Problem oder Angst gehabt.

Ich bin eher optimistisch eingestellt, ich vertraue dem österreichischen Rechtsstaat und Sicherheitsapparat. Im Ausland merke ich aber gerade, dass ich mich vulnerabler fühle und eher nicht sage, dass ich Jude bin. Mir hilft es gerade, mich mit Menschen in meiner Umgebung auszutauschen und ein Gemeinschaftsgefühl aufrechtzuerhalten. Ich hoffe auch, dass wir in einer Welt leben, wo Menschen klar ist, dass es Friede in Nahost geben muss und wir gemeinsam darauf hinarbeiten müssen. Und auch dass es ein stärkeres ­Bewusstsein dafür gibt, dass ­Juden, die hier leben, nicht Stellvertreter Israels sind.

Sorge bereitet mir, dass es Menschen gibt, die nur darauf warten, dass etwas passiert, damit sie ihren Antisemitismus offen ausleben können. Ein Herzensanliegen wäre es mir, dass man endlich offen über islamischen Antisemitismus spricht und dass man es nicht mehr nur der FPÖ überlässt, die das Thema für ihre Zwecke missbraucht, festzuhalten, dass das ein großes Problem ist. Der Antisemitismus, den ich in 31 Jahren in Österreich erlebt habe, kam ausnahmslos von muslimischer Seite. (Anna Giulia Fink, 11.11.2023)