Brutale Aufsicht bei der Sprecherziehung: Kaspar (Marcel Heuperman) versucht, den Vorgaben zu entsprechen.
Brutale Aufsicht bei der Sprecherziehung: Kaspar (Marcel Heuperman) versucht, den Vorgaben zu entsprechen.
APA/SUSANNE HASSLER-SMITH

Peter Handke selbst hat seinen Theatertext Kaspar (1968) eine "Sprachfolterung" genannt. Es geht – inspiriert von der historischen, von der Welt brutal ausgespuckten Kaspar-Hauser-Figur – um die Zurichtung eines Menschen durch die von gewissen Einsagern vorgegebene Sprachfindung sowie den von diesen Einflüsterern oktroyierten, sehr eingeschränkten Blick auf die Welt: "Ein Tisch ist ein wahrer Tisch, wenn das Bild vom Tisch mit dem Tisch übereinstimmt".

Dass diese Einsager und Einsagerinnen bei der bildstarken Neuinszenierung von Daniel Kramer im Akademietheater eher von der dunklen Seite der Macht kommen, darüber lässt das Kostümbild von Shalva Nikvashvili keinen Zweifel. Zu den schwarzen Latexoutfits gehören auch an Darth Vader gemahnende Gesichtsmasken, ausgestattet mit jeweils einem rüsselhaften Sprechtrichter, über den diese Diktatoren – ganz ohne Atembeschwerden – klare Sprachgesetze verkünden.

Die Vier im Golf-Cart

Sie kommen zu viert in einem Golf-Cart schnittig hereingedüst und übernehmen sofort bei der ersten Kurve das frisch über einen durchsichtigen Geburtskanal aus dem Himmel-Nichts geplumpste Geschöpf namens Kaspar (urwüchsig kraftvoll: Marcel Heuperman). Es trägt wilde Züge, verwachsene Gliedmaßen baumeln an ihm herab, eine Mischung aus Godzilla und Vogelscheuche. Es muss den glatt und abwaschbar markierten Einsagern in den Augen wehtun, so ein "anderes" Wesen zu sehen. Gleich säbeln sie ihm mit der Motorsäge das Fell ab.

Burgtheater Wien

Und machen aus ihm ein Riesenbaby im hellblauen Knautschlack, das sich zusehends den vielen freundlich, aber insistierend ausgesprochenen Doktrinen unterwirft. Dass Kaspar hier in einem Gefängnis gelandet zu sein scheint, deutet die schwarze Tafel im Hintergrund an, auf der wie auf einer Zellenwand mit Strichen die Tage abgezählt vermerkt stehen (Bühne: Annette Murschetz). Dazu spielt es Sweet Dreams von den Eurythmics: "Who am I to disagree ..."

Musik nutzt US-Regisseur Kramer für seine in divergierende ästhetische Kapitel unterteilte, nach Pelléas und Mélisande und Engel in Amerika nunmehr dritte Arbeit am Burgtheater ganz ungeniert. Man muss zugeben, dass sie dem hartgesotten servierten Thema ein wichtiges Ventil wird. Schreckensnachrichten klingen gesungen nun einmal weniger schwerwiegend. Es kommt später noch Last Day of Our Acquaintance von Sinéad O’Connor oder eine Coverversion von Sound of Silence. Der Ausbruch ins Lyrische bringt dem dichten, trotz vieler Kürzungen unnachgiebigen Abend Luft.

Heuperman kaspar akademietheater
Kaspar (Marcel Heuperman) wird bei seiner Weltentdeckung von Anfang an limitiert.
APA/SUSANNE HASSLER-SMITH

Zunächst aber geht die Menschenschulung erbarmungslos voran. Die Einsager performen, aus ihrem Sprechunterricht ausscherend, auch Figuren, die der Text heranspült, etwa ein Liebespaar, das in Kaspar den Sexualtrieb weckt. An anderer Stelle wird anhand einer Leiche (Markus Scheumann) erklärt: "Der Tote liegt nicht, er ist gelegt worden." Nun, man muss sagen, er liegt trotzdem.

Nach Kaspars zweiter "Geburt", infolge derer ihn kein Widerstreben mehr juckt, ihm keine Ungereimtheit mehr kratzt, führt Regisseur Kramer mehrere fertig erzogene Kaspars (neben Heuperman auch Scheumann sowie Laura Balzer, Stefanie Dvorak und Jonas Hackmann) in einer Wohngemeinschaft zusammen. Dieser Settingwechsel in die Vorabendserienrealität erzielt volle Wirkung. Denn plötzlich sieht man: Hier in einer 08/15-Wohnung mit Schrank, Bett, Dusche wirkt "der Mensch" noch deutlich erschreckender als einst japsend in seinem räudigen Ursprungsfell. Das in grauer Businesskleidung abends heimkehrende Wesen Mensch taugt nicht als Erfolgsmodell.

In einer weiteren Stufe erscheinen die Kaspars bereits als knallbunte Duracell-Comicfiguren, sie verkörpern die Pervertierung eines zu Ende gedachten menschlichen Veredelungsvorgangs. Ganz am Ende ist Kaspar der Killerclown, der an seinem Schminktisch die Atombombe zündet. Besonders in diesen unvorhergesehenen Wechseln und in ureigenen Bildmischungen gelingt es dem Zweistünder zu überraschen. Das Lachen einer Kreatur ist niemals nur ein Lachen. (Margarete Affenzeller, 13.11.2023)