Montag, der 28. Dezember 1908 war kein guter Tag. Noch ehe im südlichen Italien die Menschen in die Kirche gingen, um am "Tag der unschuldigen Kinder" zu beten, wurden sie Opfer einer der größten Naturkatastrophen Europas. Um 5.21 Uhr erschütterte ein Beben der Stärke 7,5 die Meerenge zwischen Italien und Sizilien. Große Gebiete in Messina am östlichen Ende Siziliens und in Reggio Calabria an der Spitze des italienischen Stiefels wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Zahl der Toten konnte nie genau eruiert werden, die Angaben schwanken zwischen 60.000 und mehr als 100.000 Opfern.

Suche nach Überlebenden
Viele Tage suchten Überlebende im zerstörten Messina nach Verschütteten unter den Trümmern der Häuser.
Sammlung Thomas Hofmann

Am 29. Dezember liefen die ersten Telegramme über Agenturen in die heimischen Redaktionen ein. Die Wiener Zeitung berichtete vom "hiesigen k. k. maritimen Observatorium" in Triest. Dort hatten die Geräte ein "heftiges Nahbeben, das um 5 Uhr 22 Minuten 7 Sekunden begann, das um 5 Uhr 25 Minuten 58 Sekunden den Maximalausschlag von 50 Millimetern erreichte und um 6 Uhr 29 Minuten 7 Sekunden endete", registriert. So weit die gemessenen Fakten. Das Epizentrum wurde in einer Entfernung von 600 Kilometern, "wahrscheinlich am Balkan", angenommen.

Die ersten Kurzmeldungen aus Italien vom 28. Dezember waren noch recht vage. Aus Rom wurde von einem Beben berichtet, das in mehreren Städten Siziliens verspürt wurde. Palermo meldete: "Gerüchteweise verlautet, daß das Erdbeben in Messina sehr schwere Schäden angerichtet habe." (Wiener Zeitung, 29. Dezember 1908). Erst nach und nach breiteten sich die Schreckensnachrichten über zahlreiche eingestürzte Bauwerke und untergegangene Schiffe aus. Die Kommunikationswege waren abgerissen. "Die telegraphischen und telefonischen Verbindungen mit Messina sind unterbrochen", vermeldete die Wiener Zeitung am ersten Tag nach dem Beben.

Portraits der drei Experten
Victor Uhlig, Eduard Suess und Victor Conrad (v. li.) gaben nach dem Beben ihre wissenschaftlichen Einschätzungen ab.
GeoSphere Austria

Expertenmeinungen in der "Neuen Freien Presse"

Für das Abendblatt der Neuen Freien Presse vom 29. Dezember hatte man Expertenmeinungen, "Gutachten" in der damaligen Schreibweise, eingeholt. Zunächst kam Professor Eduard Suess (1831 bis 1914) zu Wort. Suess war damals Präsident (1898 bis 1911) der Akademie der Wissenschaften, als Universitätsprofessor für Geologie war er seit seiner Abschiedsvorlesung 1901 emeritiert. Dank seiner großen Arbeit (1875) über Erdbeben im südlichen Italien war er Kenner der Materie. Durch sein dreibändiges Werk "Das Antlitz der Erde" (1883 bis 1909) war er die Instanz in der Geologie geworden. In seiner 1875er Arbeit resümierte er, dass Beben an Punkten und Linien gehäuft auftreten, die "meistens mit nachweisbaren Bruchlinien oder tektonischen Scheidelinien der Gebirge zusammenfallen". Für das aktuelle Beben von Messina nennt er Senkungen, die entlang einer "bogenförmigen Bruchlinie, welche aus der Gegend von Catanzaro, südlich von Messina, zum Aetna und weiter nach Westen läuft", als Ursache.

Experte Nummer zwei, Professor Viktor Uhlig (1857 bis 1911), Schüler von Suess und dessen Nachfolger als Ordinarius an der Universität Wien, bestätigt seinen Lehrer. Uhlig spricht von einem tektonischen Beben ("gewiß sehr wahrscheinlich") und weist einmal mehr auf die zu erwartenden Nachbeben mit geringerer Intensität hin.

Seismogramm
Das Seismogramm, aufgezeichnet in der k. k. Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, wurde von Victor Conrad analysiert.
GeoSphere Austria

Tags darauf kam im Morgenblatt der Neuen Freien Presse vom 30. Dezember ein dritter Experte, der junge Geophysiker Victor Conrad (1876 bis 1962), zu Wort. Er war seit 1904 Leiter des Erdbebendiensts an der k. k. Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik an der Hohen Warte 38 in Wien Döbling (heute: Geosphere Austria). Dort war seit 13. Jänner 1908 ein Vertikalseismograf der Firma Spindler & Hoyer in Betrieb. 1907 hatte Conrad das Messgerät persönlich in Göttingen bestellt.

Am 28. Dezember 1908 bestand der Seismograf seine Feuertaufe, die Maximalausschläge gehörten zu den allergrößten der bis dato gemessenen. Im Zeitungsbericht (S. 10) analysiert Conrad das Seismogramm im Detail und bestätigt die von Suess am Vortag genannte "Stoßlinie". Für Wien, wo das Messgerät am 28. Dezember exakt um 5 Uhr 22 Minuten und 54 Sekunden angeschlagen hatte, errechnet er für die sieben Sekunden währenden Schwingungen des Bodens einen Vertikalversatz von einem Millimeter. Als Bebenherd nahm er "wahrscheinlich" die Straße von Messina an. Einmal mehr betonte er die Unmöglichkeit, "derartige Naturereignisse auch auf noch so kurze Zeit vorauszusagen". Ein Faktum, an dem sich auch im 21. Jahrhundert nichts geändert hat.

Seisomgraf
Dieser Vertikalseismograf im Keller der Geosphere Austria registrierte 1908 in Wien Döbling das Beben von Messina; er war bis 1977 in Betrieb.
GeoSphere Austria

Die Bildbotschaften des Boulevards

Die damalige Blattlinie von Neuer Freier Presse (1864 gegründet) oder Wiener Zeitung (1703 gegründet) sah keine Bilder in der Berichterstattung vor, man setzte auf zeitnahe Informationen. Anders hingegen die 1899 gegründete Illustrierte Kronen Zeitung, die mit ganzseitigen Zeichnungen und plakativen Überschriften auf der Titelseite um ihre Leserschaft buhlte und gekonnt deren emotionale Seite ansprach, aber in Sachen Aktualität nicht mithalten konnte.

Titelseiten der Illustrierten Kronenzeitung
Die "Illustrierte Kronenzeitung" warb mit dramatischen Zeichnungen und reißerischen Überschriften um Leserschaft.
ANNO

Deren Cover vom 30. Dezember nennt eine "Erdbeben-Katastrophe in Italien. Tausende Tote". Das großformatige Bild, ein Zugunglück, zeigt keinen Bebenbezug. Am 31. Dezember scheint die Zeitung alles aufholen zu wollen, sie titelt: "150.000 Todesopfer der Erdbeben-Katastrophe". Die Zeichnung mit einem Toten, verzweifelten Überlebenden, zerstörten Häusern und überfluteten Straßen unterstreicht eindrucksvoll die Notlage in Süditalien. Im Inneren des Blattes finden sich seitenlange Berichte und zahlreiche Zeichnungen, die alle Facetten menschlichen Leids nahebringen. Selbst am Jahresbeginn verkündet der Tod mit einer Sanduhr, umgeben von einem Trümmerfeld und verzweifelten Menschen, kein gutes 1909 ("Neujahrswende unter Tod und Verderben").

Die Erbebenkatastrophe war bis Mitte Jänner am Titelblatt der Illustrierten Kronen Zeitung dominant. Neben Schreckensmeldungen wurden auch positive Nachrichten kommuniziert. Am Sonntag, dem 17. Jänner 1909 las man: "19 Tage unter den Trümmern Messinas". Einem Wunder gleich war am Freitag, dem 15. Jänner der neunjährige Franceso Minissale lebend gefunden worden. Er hatte zusammen mit seinen beiden Schwestern, zwölf und 20 Jahre alt, im Keller eines Hauses mit Zwiebeln, Wasser, Öl und Wein überlebt. Gern gelesene Frohbotschaften als Gegenpol zu Schreckensnachrichten im Boulevard. Nachrichten über heimische Hilfe kamen und kommen immer gut an. So titelte die Ausgabe vom 14. Jänner mit einem ganzseitigen Bild, das Mitglieder der Wiener Rettungsgesellschaft beim Austeilen von Nahrung an Überlebende zeigte. "Die Wiener Rettungsgesellschaft in Sizilien. Die erste Ausspeisung der Flüchtlinge aus Messina." Der letzte Satz suggeriert, die Wiener seien die Ersten gewesen, die hier Essen verteilten, was natürlich nicht stimmt.

Berichte von Zeitzeugen

Unmittelbar nach dem Unglück hatten sich Fotografen aufgemacht, um die Zerstörungen zu dokumentieren. Massenhaft produzierte Ansichtskarten wurden weltweit verschickt, sie dominieren heute noch das Ansichtskartenangebot bei der Abfrage nach "Messina" bei einschlägigen Händlern. Die Bilder des Schreckens wurden von Augenzeugenberichten in alle Welt gesendet. Eine der zahlreichen Karten ging nach Bonn: "Herzliche Grüße aus Sizilien. […] Messina ist ein schrecklicher Anblick, ein Riesentrümmerfeld, aus dem noch Tag für Tag etwa 100 Tote geborgen werden." – diese Zeilen gehen auch nach über 100 Jahren unter die Haut.

Ansichtskarte mit Zeitzeugentext
Augenzeugenberichte schilderten die Lage in Messina: "Ein Riesentrümmerfeld, aus dem noch Tag für Tag etwa 100 Tote geborgen werden."
Sammlung Thomas Hofmann

Ein ähnliches Bild zeichnet auch der damals in Capri weilende Russe Alexej Maximowitsch Peschkow, allgemein bekannt als der Schriftsteller Maxim Gorki (1868 bis 1936). Er war in der Nähe, eilte herbei, sah die Bilder der Zerstörung und hielt sie in dem Buch (zusammen mit Dr. M. Wilhelm Meyer) "Im zerstörten Messina" (Berlin, 1909) fest. "Die Erde dröhnte und ächzte dumpf, sie krümmte und bog sich unter den Füßen und bildete tiefe Spalten – wie wenn dort unten ein gewaltiger, seit Urzeiten schlummernder Riesenwurm erwacht wäre." Die Naturgewalten hatten furchtbares Leid gebracht, "die Stadt war zerstört, und unter ihren Trümmern waren für immer Tausende von Hoffnungen, Tausende von Gedanken begraben".

Neue Erkenntnisse: doppelter Kabelriss im Ionischen Meer

Der US-amerikanische Vulkanologe Frank Alvord Perret (1867 bis 1943) gehörte zu den Ersten, die sich mit dem Beben wissenschaftlich befassten. Er war bereits am 31. Dezember vor Ort. In einem Bericht im American Journal of Science (April 1909) schreibt er von mehreren Beben (5. November, 10. Dezember und 27. Dezember) im Vorfeld der Katastrophe. Er nennt deren tektonische Natur, unterstreicht aber den Zusammenhang mit magmatischen Intrusionen. Er sieht die Ursache kalabrischer Beben in Bewegungen im tiefliegenden Magma ("movements of deep-seated magma").

Scans von zwei Ansichtskarten von Messina
Eine Flut von Ansichtskarten hielt die Bebenfolgen in Messina fest, auch Bilder davon, wie es vorher ausgesehen hatte, zirkulierten.
Sammlung Thomas Hofmann

Dem Beben folgte ein Tsunami. Dessen bis zu drei Meter hohe Flutwelle erreichte zunächst ("two or three minutes after the shock") Messina und dann ("in 115 minutes") auch die Küste von Malta. Perret erwähnt auch submarine Massenbewegungen ("downslip of loose material into deep water").

Details dazu publizierte im April 2023 eine internationale Forschergruppe unter der Leitung von Irena Schulten aus Malta. Die bereits von Perret postulierte riesige submarine Massenbewegung im Ionischen Meer raste mit rund 6 Meter pro Sekunde wie eine Lawine in die Tiefe. Über 140 Meter dicke Sedimentmassen, Turbidite in der Fachsprache, zerstörten, zehn Stunden nachdem man das Beben registriert hatte, an zwei Stellen jenes Telegrafenkabel, das in mehr als 3.000 Meter Tiefe am Meeresboden zwischen Malta und der griechischen Insel Zakynthos lief.

Im Mai 2021 hatte eine Forschergruppe um Giovanni Barreca aus Catania (Italien) eine umfangreiche Arbeit über die Ursache des Bebens verfasst. Die Experten nennen neben einer Aufwölbung der Kontinentalplatte im Bereich des Peloritanischen Gebirges im Nordosten Siziliens eine Absenkung in der Straße von Messina als wichtigste Bebenursache. Damit im Zusammenhang steht eine bislang unbekannte 34,5 km lange Störungslinie. Diese tektonische Struktur, verbunden mit Verschiebungen des Meeresbodens, gilt – derzeit – als Ursache des Bebens.

Vergleicht man die allerersten Expertenmeldungen von 1908 beziehungsweise 1909 mit den umfangreichen, teils auf großen Messkampagnen beruhenden Studien des 21. Jahrhunderts, hatten Suess, Uhlig oder Perret bereits Grundlegendes richtig erkannt. (Thomas Hofmann, Christa Hammerl, 28.12.2023)