Es gebe für Schülerinnen und Schüler "sicher ein qualifizierteres Feedback" als jenes, das an Schulnoten orientiert sei, sagt der Wiener SPÖ-Chef Michael Ludwig.
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Eine "punktuelle Wissensabfragung" entspreche nicht mehr den Herausforderungen der Zeit, sagt Wiens Bürgermeister und SPÖ-Landesparteivorsitzender Michael Ludwig im Gespräch mit dem STANDARD. Und ebenso wenig dem neuesten Erkenntnisstand der Pädagogik. Zu dieser Einschätzung sei man in Abstimmung mit vielen Bildungsexpertinnen und -Experten gelangt. "Für die Lösung der kommenden Herausforderungen wird ein komplexeres Denken notwendig sein", sagt Ludwig. Deshalb sollte für ihn und die Wiener SPÖ sowohl die Matura auf den Prüfstand kommen, als auch die Leistungsevaluierung mit Schulnoten – und zwar in allen Schulstufen und -Formen von der Volksschule bis zur Oberstufe des Gymnasiums.

"Wir sind dafür, Leistung systematischer und fächerübergreifend abzufragen", präzisiert der Wiener Bürgermeister im Gespräch. Die Lösung einer komplexeren Aufgabenstellung bringe mehr Erkenntnisgewinn über die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Schülerin oder eines Schülers als die Schulnote für eine punktuelle Wissensabfrage. Damit könne auch besser festgestellt werden, ob die Vermittlung des Lehrstoffs Kindern und Jugendlichen bei der Lösung schwieriger Aufgaben ausreichend helfe. "Das entspricht auch den Anforderungen der Universitäten", sagt Ludwig. "Und die Matura soll ja auf den Hochschulzugang vorbereiten."

Weiterhin Prüfungen

Die Anforderungen in der Wirtschaft und die Alltagsherausforderungen insgesamt würden ebenfalls komplexer werden und mit Notensystem und Matura in der aktuellen Form nicht mehr ausreichend gedeckt. In zahlreichen Ländern würden bereits komplexere Formen der Leistungsabfragung und -Bewertung praktiziert. Und auch in österreichischen Schulen würde aktuell schon entsprechende Projektarbeit umgesetzt.

Geht es also auch um eine komplette Abschaffung der Matura? "Wie man es dann nennt, ist nebensächlich", sagt Ludwig. Laut seiner Vorstellung und jener der Wiener SPÖ soll die Lernleistung in Schulen aber auch weiterhin in Form von Prüfungen abgefragt werden. "Wir sind eine Partei, die auch Leistung einfordert und Aufstieg und Sicherheit über Leistung gewährleisten will."

Fokus auf Gesamtwissen

Das System mit Schulnoten sollte laut Ludwig gänzlich hinterfragt werden. Statt punktuellen Befragungen in einzelnen Fächern hielte er es für "sinnvoller, den Gesamtwissensstand zu berücksichtigen". In Volksschulen habe das Notensystem ohnehin einen geringeren Stellenwert. "Ich glaube, da sollte man generell eher zu einer verbalen Benotung kommen", sagt Wiens oberster Genosse.

Auch in allen weiterführenden Schulen bis hin etwa zur Handelsakademie oder Gymnasiums-Oberstufe kann er sich die komplette Abschaffung von Schulnoten aber vorstellen: "Ja, evaluieren müssen wir das auf jeden Fall." Für Lehrkräfte sei es im aktuellen System eine große Herausforderung, zu einer komplexeren – und praxisnäheren – Leistungsbewertung zu kommen. Auch für Schülerinnen und Schüler gebe es aber "sicher ein qualifizierteres Feedback" als jenes, das nur an einer Schulnote orientiert sei.

Wertschätzung ausdrücken

Eine Beurteilung solle auch die Beschreibung der "individuellen Leistungsentwicklung zur Förderung von Begabungen" beinhalten. "Man sollte den Schülerinnen und Schülern das Gefühl geben, dass man auch ihre Qualifikationen schätzt und nicht nur ihre Defizite auswertet", sagt Ludwig.

Entsprechende – unverbindliche – Anträge, die auch die Abschaffung der Matura beinhalten, wurden bei der "Wiener Konferenz" am Samstag von den Wiener SPÖ-Delegierten angenommen. Sollen die Ideen der Hauptstadt-Genossinnen und -Genossen nun auch Einschlag ins Programm der roten Bundespartei finden – auch im Hinblick auf den Nationalratswahlkampf im kommenden Jahr? "Wir bringen Vorschläge dieser Art ja laufend in der Bundespartei ein", sagt Ludwig. Da wolle man auch nicht lockerlassen und das Thema Bildung weiter prägen.

Mit der Bundes-SPÖ dürfte das Vorhaben jedenfalls nicht abgestimmt gewesen sein. Eine Reform der Matura trage man mit, Noten abzuschaffen sei aber keine Forderung der Bundespartei, und überhaupt hätte man derzeit andere Prioritäten, lässt diese auf Anfrage der ZiB 1 wissen.

Kein "finaler Entscheidungstag"

"Unser Bildungssystem muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen", meinte Paul Stich, Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Österreich, in einer Aussendung dazu. Dabei bestehe auch bei der Matura Handlungsbedarf. "Wer mindestens 12 Jahre lang alle Prüfungen bestanden hat, braucht keinen finalen Entscheidungstag. Im Gegenteil, SchülerInnen sollen beweisen können, dass sie das über die Jahre gelernte auch wirklich anwenden können. Wir schlagen vor, die Matura durch praxisorientierte Projektarbeiten zu ersetzen", meinte er gemeinsam mit der Wiener SJ-Vorsitzenden Rihab Toumi.

Stich verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass diese Beschlusslage keineswegs eine neue innerhalb der SPÖ sei. "Bereits 2021 hat der SPÖ-Bundesparteitag auf Antrag der SJ die Forderung nach einer Abschaffung der Matura in ihrer heutigen Form beschlossen. Das heutige Bekenntnis der Wiener SPÖ zu diesem Beschluss verdeutlicht den Handlungsbedarf in diesem Bereich", sagte er.

Polaschek: "Hirngespinste linker SPÖ-Träumer"

ÖVP und FPÖ gefallen die Ideen der Wiener Genossinnen und Genossen aber weniger. Die beiden Parteien rückten am Samstag mit fünf Presseaussendungen dagegen aus, darunter eine von Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) höchstpersönlich. "Die Reifeprüfung ist ein entscheidender Meilenstein für die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe", betonte er, plädierte auch für die Beibehaltung von Schulnoten und sprach von "Hirngespinsten linker SPÖ-Träumer". Nach der Absolvierung seien die jungen Erwachsenen reif für Beruf oder Studium. "Eine Abschaffung der Matura kommt für mich also nicht in Frage."

Ähnlich sah das der Generalsekretär der Volkspartei, Christian Stocker. "Dieser Mini-Parteitag der Wiener SPÖ bedeutet einen massiven Angriff auf unser Bildungssystem, denn die Sozialdemokratie will offenbar, dass unsere Kinder nichts mehr lernen. Auch einer Gleichmacherei aller Schülerinnen und Schüler mit der Gesamtschule erteilen wir als Volkspartei eine klare Absage", wetterte er. Vor einem "Linksruck" in der Bildungspolitik warnte der Wiener ÖVP-Bildungssprecher Harald Zierfuß.

Bei der FPÖ warnte Bildungssprecher Hermann Brückl vor "Unfug aus dem linken Anti-Leistungsfundus der SPÖ". Es brauche weiter Schulnoten, und die Reifeprüfung müsse einer Gesamtreform unterzogen werden, "um ihren Wert und ihre Qualität, die unter Schwarz-Grün massiv gelitten haben" wieder zu steigern. "Die SPÖ will offensichtlich eine Schule ohne Leistung und aus Jugendlichen unmündige und bildungsferne Bürger machen, damit sie ihrer dummen Politik auf den Leim gehen. Diesen Wahnsinnigkeiten gehört eine klare Absage erteilt", meinte auch der Wiener FPÖ-Klubobmann Maximilian Krauss. (Martin Tschiderer, APA, 18.11.2023)