Hochwasser Fluss Ahr Deutschland
Der Fluss Ahr entwickelte im Juli 2021 ungeahnte Zerstörungskraft. Über 180 Menschen starben.
AP

Den Juli 2021 werden die Menschen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wohl ihr Leben lang nicht vergessen. Rekordregenfälle in wenigen Stunden sorgten am Fluss Ahr für die schlimmste Flutkatastrophe in der Geschichte der beiden Bundesländer. Mehr als 180 Menschen starben. Der finanzielle Schaden belief sich laut Berechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums auf über 40 Milliarden Euro. Fast zehntausend Gebäude wurden zerstört, fast doppelt so viele Menschen verloren ihr gesamtes Hab und Gut.

Um auf solche Extremereignisse künftig besser vorbereitet zu sein, setzt das Klimaschutzministerium von Rheinland-Pfalz unter anderem auf Technologie aus Österreich. Mit der Simulationssoftware Visdom des Wiener Forschungsunternehmens Vrvis können Starkregen- und Hochwasserereignisse berechnet und wie in einem Videospiel dreidimensional visualisiert werden.

In mehrjähriger Vorbereitungszeit wurde ein digitales Abbild des gesamten Bundeslandes erstellt, das topografische Gegebenheiten, aber auch Abflussdaten von Regenfällen, Bächen und Flüssen und des Kanalnetzes berücksichtigt. Selbst die Bodenbeschaffenheiten und die Versickerungsfähigkeit bei längeren oder besonders starken Regenereignissen wurden in das Gesamtmodell aufgenommen. Da bis auf einen Meter genau aufgelöst wird, sind für das etwa 20.000 Quadratkilometer große Bundesland 20 Milliarden Rechenzellen im Einsatz.

Schnelle 3D-Aufbereitung

Das Besondere an dem weltweit einzigartigen System ist, dass es ungeachtet enormer Datenmengen im Terabyte-Bereich extrem schnell arbeitet. Auch für große Gebiete dauert es nur wenige Minuten, um ein 30-jährliches, 100-jährliches oder ein 300-jährliches Hochwasser nicht nur zu berechnen, sondern auch visuell aufzubereiten. Auch Worst-Case-Szenarien, bei denen Dämme und andere Schutzmaßnahmen versagen, können simuliert werden. Da die Rechenarbeit nicht auf dem eigenen Computer, sondern mittels Grafikkarten auf einem Server erfolgt, können auch weniger leistungsstarke Geräte den Dienst nutzen.

Ebenfalls einzigartig ist, dass das System nicht mit rein statischen und vorberechneten Daten operiert, sondern in Echtzeit adaptiert werden kann. Schutzmaßnahmen wie Dämme, Sandsäcke, Mauern oder Auffangbecken können in die Landschaft eingefügt und die Auswirkungen bei einem Hochwasser sofort neu simuliert werden. Für jedes Gebäude kann so in wenigen Sekunden berechnet werden, wie hoch das Wasser bei Extremereignissen steigt und ob bauliche oder Sofortmaßnahmen einen Schutz bieten.

Simulationssoftware Hochwasser
Die Simulationssoftware Visdom verdeutlicht, welche Flächen bei einem Hochwasser überschwemmt werden. Für das Modell wurde ganz Rheinland-Pfalz digital abgebildet.
Vrvis

In weiterer Folge – das Projekt läuft offiziell zumindest noch bis 2027 – soll das Modell kontinuierlich mit neuen Daten gefüttert werden, etwa wenn Baumaßnahmen schon umgesetzt oder auch zusätzliche Informationen zum Kanalnetz verfügbar sind. Als finales Ziel soll die Software mit aktuellen Wetter- und Hochwasserprognosen verknüpft werden. Auch die Verschränkung mit aktuellen Sentinel-Satellitendaten des europäischen Copernicus-Programms schweben den Verantwortlichen vor, wie Vrvis-Simulationsexperte Jürgen Waser im STANDARD-Interview verrät.

Dass das mit einer Bevölkerung von 4,1 Millionen sechstgrößte deutsche Bundesland mit dem Wiener Forschungsunternehmen kooperiert, ist wenig überraschend. Denn die in Kollaboration mit Fachleuten wie dem Hydrologen Günter Blöschl von der TU Wien entwickelte Software ist bereits seit zehn Jahren in unterschiedlichen Projekten in Köln im Hochwasser-Management im Einsatz. Auch Hamburg setzt mittlerweile auf das Know-how aus Wien. Die große Nachfrage aus dem Ausland freut Waser dennoch sehr: "Neben den skandinavischen Ländern gibt es sogar Anfragen aus den USA und Indien. Langweilig wird es uns also definitiv nicht werden."

Interaktive Gefahrenkarte

In Österreich wiederum hat Vrvis, das als Comet-Zentrum unter anderem von FFG, Klimaschutzministerium und Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird, ohnehin diverse Erfolgsprojekte vorzuweisen. Besonders spannend ist das im Frühjahr fertiggestellte Projekt Hora 3D. Auf der interaktiven Landkarte für Naturgefahren können Bürgerinnen und Bürger seither für jede Adresse die Hochwassergefahr simulieren. Über 33.000 Flusskilometer wurden berücksichtigt. Bei Flüssen und Bächen mit mehr als zehn Quadratkilometer Einzugsfläche kann die Welle bei einem 30-jährlichen bis 300-jährlichen Hochwasser sogar mit Bewegtbild visualisiert werden.

Gebäude Hochwassersimulation Hora 3D
Mit der Hochwassersimulation kann für jedes Gebäude das Risiko berechnet und visualisiert werden.
Vrvis

Natürlich können ein Modell und eine Simulation nicht alle Eventualitäten berücksichtigen, die gerade bei den klimawandelbedingten Extremereignissen der vergangenen Jahre aufgetreten sind. Ein teilweiser Abgleich mit den tatsächlichen Hochwasser- und Starkregenereignissen im Sommer in Österreich habe aber gezeigt, dass die Simulation wenig von der tatsächlich eingetretenen Realität abgewichen sei. Die Plattform sei ein wertvolles Werkzeug, um jeden Einzelnen mehr für das Thema zu sensibilisieren, ist Waser überzeugt.

Auf den Lorbeeren wollen sich die Vrvis-Simulationsprofis aber nicht ausruhen. Künftig könnte die Software nämlich nicht nur für die Berechnung und Modellierung von Regen und Hochwasser eingesetzt werden, sondern auf der Hora-Plattform auch andere Naturgefahren wie etwa Schneelast oder zu erwartende Sturmschäden simulieren und visualisieren. (Martin Stepanek, 22.11.2023)

Hinweis: Durch das starke Interesse an der Hochwasser-Risiko-Karte Hora 3D kommt es aktuell offenbar zu längeren Wartezeiten.