Denkmal in Kiew, zeigt ein junges Mädchen
Am 25. November wird des Holodomors gedacht. Für die Ukraine ist die Hungersnot, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, ein Trauma.
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Ein Vierteljahrhundert nach Srebrenica hat der russische Überfall auf die Ukraine das Thema Genozid in Europa wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Zwar fanden internationale Organisationen keine Anzeichen für den von Russland behaupteten Genozid an der russischsprachigen Volksgruppe der Ukraine. Dafür gibt der Krieg samt Kriegsverbrechen, Verschleppung von Kindern und genozidaler Hetzpropaganda laut einer Studie des Raoul Wallenberg Centre for Human Rights Grund zur Annahme von Völkermord. Die Parlamente Kanadas, Irlands, Polens und der baltischen Staaten sehen dies ebenso, andere Staaten sind vorsichtiger.

Neue Dynamik

Ferner hat der Krieg eine neue Dynamik zur Anerkennung des Holodomors ("Tod durch Hunger") als Genozid generiert. Er ist Teil einer von Stalins Zwangskollektivierung ausgelösten Hungersnot mit acht bis neun Millionen Toten, davon etwa vier Millionen in der Ukraine, drei Millionen in stark ukrainisch und deutsch besiedelten Gebieten Russlands, 1,5 Millionen in Kasachstan. Besonders betroffen waren Kinder.

Bereits 1953 forderte Raphael Lemkin, polnisch-jüdischer Jurist aus Lemberg und Schöpfer des Begriffes "Genozid", den Holodomor als solchen anzuerkennen. Die von ihm angeregte UN-Konvention vom Dezember 1948 nennt den Genozid eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Seine Formen sind die Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden an ihnen; die Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen; Maßnahmen zur Geburtenverhinderung in der Gruppe; die Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere. Genozid bedeutet somit nicht, dass eine Tötung aller Mitglieder der Gruppe beabsichtigt oder vollzogen werden muss, um den Tatbestand zu erfüllen. Es genügt, einen Teil der Gruppe zu töten und den Rest seiner Gruppenidentität zu berauben. Zu bestrafen ist laut UN-Konvention nicht nur die Begehung von Genozid, sondern auch dessen Propaganda oder Versuch.

Verheimlichtes Trauma

Der Holodomor wird heute von zahlreichen Parlamenten etwa Deutschlands, Frankreichs, Kanadas, Polens, vom EU-Parlament und US-Senat als Völkermord anerkannt – ein eher symbolischer Akt "historisch-politischer Einordnung", wie der Bundestag erklärte. Unmittelbare Rechtsfolgen im Sinne eines Entschädigungsanspruches ergehen daraus nicht. Für die Ukraine ist es die Anerkennung eines nationalen, von der Sowjetunion 50 Jahre lang verheimlichten Traumas. Der Schritt bedeutet keine Abschwächung der Besonderheit des Holocaust, wie dies auch bei der Verurteilung des Völkermordes von Srebrenica nicht der Fall war.

Vielerorts ist die Anerkennung auf Raten erfolgt. So verurteilte das EU-Parlament 2008 den Holodomor als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und 2022 als Völkermord. Österreich ist auf halbem Weg stehen geblieben: So verurteilte der Nationalrat vorigen Dezember einstimmig den "willkürlich und systematisch gegen die Zivilbevölkerung vor allem im Großraum der Ukraine von der Sowjetunion provozierten Hungermord". Die Entschließung unterließ aber eine Bezeichnung als Völkermord, was Kritik hervorrief.

Lücken in Befehlskette

Welche Argumente wurden gegen die Einordnung als Völkermord vorgebracht?

Erstens ist bei vielen historischen Massenverbrechen die Absicht nicht direkt dokumentiert. Ein Holodomor-Befehl Stalins existiert vermutlich nicht. Allerdings haben die Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda einen Völkermord auch dann als gegeben angesehen, wenn die Befehlskette nicht lückenlos belegt ist. Im Fall des Holodomors ist dokumentiert, dass Stalin früh über die durch seine Politik verursachte Hungersnot informiert war. Der Abtransport von Getreide aus Hungergebieten, die Unterbindung der Flucht von dort, die Fortsetzung des Lebensmittelexports, die Zurückweisung internationaler Hilfsangebote zeigen, dass Stalin den Holodomor in Kauf nahm.

Zweitens haben Historiker geäußert, dass sich der Hunger gegen keine nationale, sondern eine soziale Gruppe, die Bauern, richtete, was nicht zuletzt auf sowjetischen Druck nicht in die UN-Konvention aufgenommen wurde. Dieses Argument übersieht, dass Menschen auch in den Städten verhungerten, obwohl in geringerer Zahl als auf dem Land, und der Holodomor durch weitere Aktionen begleitet wurde: die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur; Schauprozesse gegen "ukrainische" Organisationen; die Deportation ukrainischer Bauern nach Russland und Ansiedelung russischer in der Ukraine.

Bleibt drittens das Argument, dass die Hungersnot auch außerhalb der Ukraine wütete und in Kasachstan sogar einen höheren Prozentsatz der Bevölkerung tötete. Daraus aber ein Argument gegen die Völkermordthese abzuleiten ist nicht überzeugend, da jeder Völkermord für sich beurteilt werden muss.

Nicht erfüllte Hoffnung

Auch wenn sich Lemkins Hoffnung, dass die UN-Konvention Völkermorde verhindern würde, bisher ebenso wenig erfüllt hat wie seine Forderung nach allgemeiner Anerkennung des Holodomors als Genozid, bleibt das Gedenken an genozidale Politiken der Vergangenheit ebenso Imperativ wie ihre Bekämpfung in der Gegenwart. (Wolfgang Mueller, 25.11.2023)