Schulkinder in einer Klasse und ein Stapel voller Schulbücher.
Sonderpädagogischer Förderbedarf wird in Österreich nach sehr uneinheitlichem Muster vergeben.
APA/dpa/Sebastian Gollnow

Ob Schülerinnen und Schülern mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) attestiert wird, hängt stark davon ab, in welchem Bundesland sie leben, zeigt eine aktuelle Studie im Auftrag des Bildungsministeriums. Wegen schwammiger Kriterien für den SPF haben sich nämlich in den Ländern ganz unterschiedliche Praktiken etabliert, einheitliche Begutachtungskriterien und Qualitätsstandards fehlen. Die Studienautorinnen und Studienautoren fordern eine Reform.

Schulkinder und schulpflichtige Jugendliche mit SPF können Förderung durch spezielles Lehrmaterial oder Lehrkräfte bekommen oder in einem oder mehreren Fächern nach dem Lehrplan einer niedrigeren Schulstufe oder anderen Schulart unterrichtet werden. Doch nicht nur der Anteil an Schülerinnen und Schülern, denen SPF attestiert wird, schwankt (DER STANDARD berichtete bereits darüber) laut der am Dienstag bei einem Online-Pressegespräch präsentierten Studie je nach Bundesland stark zwischen 2,4 Prozent in Tirol oder etwa 6,7 Prozent in Salzburg. Es gibt auch große Differenzen nach Geschlecht (in Niederösterreich sind 21 Prozent der Kinder mit SPF Mädchen, im Burgenland 44) sowie bei der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer der SPF-Anträge, beim Alter, in dem die Schüler erstmals einen SPF-Bescheid bekommen, und bei der Frage, ob sie nach dem normalen oder dem Sonderschullehrplan unterrichtet werden.

Unterschiedliche Verfahren und Kriterien

Als Ursachen für die Abweichungen nannte Studienmitautor Thomas Hoffmann (Uni Innsbruck) Unterschiede bei den diagnostischen und Begutachtungsverfahren, außerdem würden in einigen Bundesländern die gesetzlichen Kriterien für den SPF sehr weit ausgelegt, etwa bei den häufigsten Diagnosen Lern-/Leistungsbeeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und kognitive Beeinträchtigung. Laut der Erhebung wurden etwa je nach Bundesland bzw. Region unterschiedlich viele Behinderungen pro Schülerin oder Schüler diagnostiziert. Als Extrembeispiel nannte Hoffmann, dass im Burgenland bei weniger als einem Prozent eine Sehbehinderung festgestellt wurde, in Tirol hingegen bei mehr als zehn.

Die Sprecherin des Forschungskonsortiums, Barbara Gasteiger-Klicpera (Uni Graz), sprach von einem jeweils gut begründbaren Versuch der Länder, eine faire Zuordnung von Ressourcen zu ermöglichen. Auch in der Lehrplanzuordnung werde teilweise sehr differenziert vorgegangen, um für schulpflichtige Kinder oder Jugendliche mit Behinderung die Möglichkeiten von inklusivem Lernen zu erweitern. Für eine Harmonisierung sollten die Bundesländer ihre Praktiken gemeinsam weiterentwickeln. Der Unterricht müsse künftig so gestaltet werden, dass jedes Kind auf seinem jeweiligen Lernniveau gefördert werden kann, fordert das Forschungsteam. Förderangebote sollte es auch ohne harte Diagnose geben, wie das schon jetzt in einigen Bundesländern der Fall ist.

Barrierefreien Unterricht gewährleisten

"Wenn der Unterricht barrierefrei ist, braucht man keinen SPF", betonte Gasteiger-Klicpera. Auch ohne Notendruck würden viele SPF-Anträge obsolet, sagte Hoffmann. Immerhin bekommen 77 Prozent der SPF-Schülerinnen und SPF-Schüler ihren Bescheid, um Druck herauszunehmen, nachdem sie schon eine Klasse wiederholen mussten. Zur Verteilung zusätzlicher Ressourcen tauge der SFP außerdem ohnehin nicht, hob Prammer hervor. Immerhin gebe es nur für maximal 2,7 Prozent der Pflichtschulkinder mit Behinderung zusätzliche Ressourcen, unabhängig davon wie viele SPF-Schülerinnen und SPF-Schüler es tatsächlich gibt. Wie viele Mittel die Länder selbst zusätzlich in die Hand nehmen, sei mangels belastbarer Daten unklar.

Die Umstellung des Systems von 2019, wonach die Entscheidung für den SPF nicht mehr von den Sonderschuldirektorinnen und -direktoren, Pflicht- oder Landesschulinspektoren, sondern von Juristinnen und Juristen in den Bildungsdirektionen getroffen wird, brachte zumindest beim SPF-Anteil keine dramatischen Änderungen. Positiv sei, dass der juristische Prozess dadurch erleichtert worden sei, berichtete Gasteiger-Klicpera aus den Experten-Interviews. Gleichzeitig sei aber die pädagogische Förderung stärker aus dem Blick geraten, bedauerte sie.

Für die Untersuchung, an der sich 14 Universitäten und Pädagogische Hochschulen beteiligt haben, wurden die Daten aller derzeit rund 26.000 SPF-Schülerinnen und SPF-Schüler sowie 454 SPF-Gutachten analysiert. Außerdem wurden knapp 300 Personen (Eltern, Lehrpersonal, Schulleitungen, Diversitätsmanager) sowie 31 Expertinnen und Experten befragt.

Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre sah durch die Studienergebnisse ihre Kritik am derzeitigen Modell des sonderpädagogischen Förderbedarfs bestätigt und unterstützt die Forderungen der Fachleute: "Bei 3,4 Prozent der Mädchen und 5,4 Prozent der Jungen wird sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Polaschek beharrt aber auf dem 1992 eingeführten Deckel von 2,7 Prozent. Wenn nicht einmal der Wille da ist, um die nötigen Ressourcen für sonderpädagogischen Förderbedarf zur Verfügung zu stellen, bleiben Inklusion und Chancengleichheit für jedes Kind im Bildungssystem eine leere Phrase." (nim, APA, 28.11.2023)