Zerschossener Hörsaal.
Der Beschuss durch russische Truppen hat Hörsäle und Labore an der Universität Karazin in Charkiw völlig zerstört.
IMAGO/Ukrinform

Zerstörte Schulen und Universitäten, Forschungsinstitute unter Beschuss: Der Krieg in der Ukraine hat auch das Wissenschaftssystem des Landes hart getroffen. Wie europäische Forschungseinrichtungen Geflüchteten beistehen können, zeigt das Research Center for the History of Transformations (RECET) in Wien. Direktor Philipp Ther und Geschäftsführerin Irena Remestwenski erzählen mit zwei geflohenen Forscherinnen, wie das Programm Refugee Scholars einen sicheren Hafen für die Wissenschaft bietet.

STANDARD: Wie ist das Programm Refugee Scholars entstanden?

Irena Remestwenski: Ich habe mich am vierten Tag des Krieges bei der freiwilligen Verbindung Science for Ukraine gemeldet. Die Idee war, eine Onlinedatenbank von Refugee Scholarships, also von Stipendien für ukrainische Kolleginnen und Kollegen, zu erstellen, auf die man zentral zugreifen kann. Ich wurde schnell zur Österreich-Koordinatorin des Netzwerks und merkte, dass es in Österreich keine Angebote in die Richtung gibt, andere Länder waren da schneller. Außerdem fand ich, dass auch wir selbst etwas zur Datenbank beitragen müssen.

Irena Remestwenski
Irena Remestwenski studierte Friedens- und Konfliktforschung und ist Geschäftsführerin des Research Center for the History of Transformations.
Yuriy Remestwenski

STANDARD: Insgesamt wurden seither 17 Stipendien an ukrainische Kolleginnen und Kollegen vergeben. Wie wurden sie finanziert?

Irena Remestwenski: Es gab schon vor der Invasion eine Ausschreibung der Stadt Wien, nicht speziell für Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern allgemeine Forschungsstipendien, die über zwei Monate 5000 Euro pro Person für ein wissenschaftliches Projekt zur Verfügung stellten. Davon habe ich im Mai 2022 die ersten sieben Stipendien angeworben. Bis Ende Februar 2023 lief die zweite Ausschreibungsrunde, wieder durch eine Förderung der Stadt Wien, wo wir sechs Stipendien angeworben haben. Und wir haben eine Kooperation mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), mit denen wir vier Fellows über ein Joint Scholarship finanzieren konnten.

STANDARD: Das gesamte durchschnittliche Wissenschaftsbudget der Ukraine war vor dem Krieg kleiner als das einzelner großer US-Universitäten wie Harvard oder Stanford. Welchen Status hatte die Wissenschaft vor dem Krieg?

Halyna Ilina: Die Ukraine ist kein reiches Land, und natürlich sind alle Forschungszweige auf finanzielle Förderungen angewiesen, insbesondere die Naturwissenschaften wie Physik oder Biologie. Die Finanzierung war auf jeden Fall ein Problem. Die Ukraine war oft in internationale Programme involviert, bei denen Datenanalysen an ukrainische Institute outgesourct wurden, weil sie dort günstiger waren. Der Status an sich war aber immer hoch, es gab eine gute institutionelle Infrastruktur, viele Universitäten und nationale Akademien. Außerdem hat die Wissenschaft signifikante Verbesserungen durchgemacht in den letzten zehn Jahren. Aber man war noch nicht auf dem Level, dass Forscher wirklich alles umsetzen konnten, was sie machen wollten.

Philipp Ther
Philipp Ther ist Historiker, Wittgensteinpreisträger (2019) und gründete 2020 das Research Center for the History of Transformations.
Joseph Krpelan

STANDARD: Russland hat strategisch zivile Einrichtungen attackiert. Sind strategische Angriffe auf akademische Institutionen zu beobachten?

Philipp Ther: In Kiew, Charkiw, Mykolajiw und an anderen Orten ist ganz klar ersichtlich, dass gezielt Wissenschaftseinrichtungen bombardiert werden, was übrigens ein schweres Kriegsverbrechen darstellt.

Olena Yermakova: Auch viele Bibliotheken wurden angegriffen. Das IWM hat ein Projekt, Documenting Ukraine. Sie arbeiten unter anderem mit kleinen NGOs und Angestellten aus Archiven zusammen und versuchen, den Krieg zu dokumentieren. Eigene Projekte wie etwa SUCHO, Saving Ukrainian Cultural Heritage Online, widmen sich nur dem Erhalt der Bestände von zerstörten Bibliotheken und Kultureinrichtungen wie zum Beispiel Museen. Es waren nicht nur spezifisch die Universitätsgebäude, sondern der gesamte intellektuelle Komplex wurde angegriffen.

Halyna Ilina
Halyna Ilina ist Dr. habil. der Philosophie und Associate Professor am Institut für Philosophie an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew.
Halyna Ilina

STANDARD: Ein Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine nimmt bereits Formen an. Was sollte sich im Zuge des Wiederaufbaus verändern?

Halyna Ilina: Wichtig wäre es in erster Linie, das akademische System in der Ukraine zu internationalisieren. Also mehr Kommunikation, mehr Austausch. Und das Zweite ist, dass es momentan nicht so sehr um Wiederaufbau geht, sondern um den Erhalt. Die Ukraine hat einen großen Teil ihrer Infrastruktur verloren, also die Frage ist eher, wie kann man die bestehenden Strukturen noch erhalten, die teilweise schwer beschädigt wurden. Mehr als 3000 Schulen in der Ukraine wurden beschädigt, etwa 270 komplett zerstört, also müssen wir uns fragen, wie wir eine Ausbildung gewährleisten können, sodass junge Menschen überhaupt später an die Universität kommen. Die Schüler sind momentan mit ganz anderen Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Sie verbringen viel Zeit in Bunkern und Kellern, werden online unterrichtet, sofern das möglich ist. Das ist kein geeignetes Umfeld, um junge Menschen zu bilden.

Olena Yermakova: Da stimme ich zu. Es ist natürlich wichtig, über den Wiederaufbau und einen Marshallplan zu sprechen, aber so weit sind wir noch nicht. Zuerst müssen wir den Krieg gewinnen. Wenn ein noch größerer Teil des Landes unter russische Besetzung gerät, dann können wir nicht darüber reden, wie das Wissenschaftssystem wiederaufgebaut wird. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Der Langzeiteffekt der vielen Toten, des massiven Verlusts an menschlichen Ressourcen durch die Flucht, des zerstörten Equipments und der vielen Studierenden und Schüler, die ganze Jahre in ihren Laufbahnen verlieren, wird uns noch Jahrzehnte begleiten. Das große Thema für das Überleben der ukrainischen Wissenschaft ist, wie man Forscher jetzt unterstützt.

Olena Yermakova
Olena Yermakova ist PhD-Kandidatin an der Faculty of International and Political Studies an der Jagiellonen-Universität in Krakau.
Yermakova

STANDARD: Was können österreichische oder europäische Forschungseinrichtungen tun?

Olena Yermakova: Stipendien wie dieses hier sind sehr hilfreich, aber sie sind meistens nur für Frauen zugänglich. Es stellt also eine große Ungleichheit dar, dass männliche Forscher in der Ukraine bleiben und nicht einmal für eine Konferenz das Land verlassen können, geschweige denn für ein Stipendium. Es gibt bereits viel Unterstützung für Wissenschafter, aber sie ist meist derart, dass sie nur im Ausland angeboten wird. Es gibt vergleichsweise wenige Förderungen, die für jene verfügbar sind, die in der Ukraine geblieben sind.

Philipp Ther: Einerseits sollten "non-residential scholarships" ausgebaut werden, um die Menschen vor Ort zu unterstützen. Außerdem kann man Kooperationspartner vor Ort unterstützen, die man bereits hat, oder Geflüchtete, die wieder in die Ukraine zurückgehen. Auf das Ende des Krieges sollte man jedenfalls nicht warten, nachdem davon auszugehen ist, dass er noch lange andauern wird. (Sarah Kleiner, 3.12.2023)