Rosmarie Wydler-Wälti ist eines von 2.300 Mitgliedern der Schweizer Klimaseniorinnen. Die 73-Jährige ist seit der Vereinsgründung 2016 dabei und hat mit ihren Mitstreiterinnen seither alle juristischen Instanzen durchlaufen. Sie fordern mehr Klimaschutzmaßnahmen von der Regierung – und ziehen dafür seit Jahren vor Gericht.

"Die Klimaerwärmung macht Menschen krank. Wir ältere Menschen gehören dazu: Wegen der häufigeren und intensiveren Hitzewellen steigen die Risiken, frühzeitig krank zu werden oder zu sterben, für uns übermäßig an", heißt es auf der Website der Klimaseniorinnen. Weil vor allem ältere Frauen besonders stark davon betroffen seien, sehen die Seniorinnen ihre Grundrechte bedroht. Sie werfen den "zuständigen Stellen" vor, zu wenig zu tun, um die "Klimaerwärmung auf ein ungefährliches Ausmaß zu begrenzen".

Im März zogen die Frauen mit ihrer Klage vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Während die Richterinnen und Richter in Straßburg derzeit noch tagen, hegt Klimaseniorin Wydler-Wälti keinen Zweifel daran, zu gewinnen.

STANDARD: Frau Wydler-Wälti, Sie sind 73 Jahre alt und gehören zu der Generation, der vorgeworfen wird, die Klimakrise in den vergangenen Jahrzehnten angeheizt zu haben. Nun ziehen Sie mit dem Verein Klimaseniorinnen gegen die Schweizer Regierung vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Warum engagieren Sie sich gerade jetzt?

Wydler-Wälti: Begonnen haben wir schon 2016, da haben wir unseren Verein gegründet und gingen mit unserer Beschwerde direkt zum Bundesrat. Wir wurden abgewiesen mit dem Argument, dass alle Menschen gleich betroffen seien – obwohl wir einen Nachweis hatten, dass Frauen über 75 Jahre gegenüber Hitzewellen besonders vulnerabel sind. Auch die WHO kam 2011 zu diesem Ergebnis. Trotzdem gingen sie nicht darauf ein. Dann mussten wir weiter ans Bundesverwaltungsgericht, das uns auch abgewiesen hat, und ans Bundesgericht, das uns Ende 2020 ebenfalls abblitzen hat lassen mit der Begründung, dass es noch nicht erwiesen sei, dass die Temperatur über 1,5 Grad steigen werde. Dann war klar, der nächste und letzte Schritt ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, und da haben wir dann 2020 Klage eingereicht. Später haben wir erfahren, dass das Gericht diesen Fall prioritär behandeln wird.

Rosmarie Wydler-Wälti
Rosmarie Wydler-Wälti ist 73 Jahre als und setzt sich bei den Klimaseniorinnen für mehr Klimaschutzmaßnahmen ein.
Rosmarie Wydler-Wälti

STANDARD: Warum beinhaltet die Klage nur Seniorinnen? Älteren Männern und Kleinkindern macht die Hitze doch genauso zu schaffen und kann auch für sie lebensbedrohlich sein.

Wydler-Wälti: Neben älteren Frauen sind Kleinkinder ebenso vulnerabel gegenüber Hitze. Aber sie können nicht selber klagen, und in der Schweiz hat nur eine Personengruppe, die besonders betroffen ist, die Aussicht, mit einer solchen Klage Erfolg zu haben. Seit 2003 ist nachgewiesen, dass ältere Frauen ab circa 75 Jahren durch den Klimawandel ein höheres Sterberisiko haben als ältere Männer. Warum das so ist, weiß man noch nicht. 2016 haben vier weitere Frauen, die besonders krank waren, zusätzlich mit uns geklagt. Deren Ärztinnen haben mit einem Attest bewiesen, dass sie ihre chronischen Krankheiten durch vorangegangene Hitzewellen bekommen haben. Eine der Frauen ist mittlerweile gestorben.

STANDARD: Leiden Sie persönlich mehr unter Hitze als früher?

Wydler-Wälti: Ich habe diesen Sommer zum ersten Mal bemerkt, dass ich plötzlich ein bisschen Atemnot habe, wenn ich schnell die Treppe hochgehe. Ich habe mich manchmal eher hingelegt und keine größeren Arbeiten gemacht. Am liebsten bin ich im kühlen Bus zum Rhein gefahren, hinabgeschwommen und mit der Tram wieder nach Hause.

STANDARD: Was erhoffen Sie sich von einem juristischen Urteil?

Wydler-Wälti: Wir hoffen natürlich, dass ein starker Klimaschutz, der wirklich etwas bringt, als Menschenrecht anerkannt wird. Das wäre der höchste Gewinn. Vielleicht werden auch nur Teile unserer Klage anerkannt, aber wir rechnen auf jeden Fall damit, zu gewinnen.

STANDARD: Planen Sie weitere Schritte, sollte die Klage abgewiesen werden?

Wydler-Wälti: Damit rechnen wir eigentlich gar nicht. Es könnte aber natürlich sein, dass der EGMR uns ans Bundesgericht zurückschickt und diesem den Auftrag gibt, endlich auf unsere Klage einzugehen. Wir würden auf jeden Fall bleiben und weiterkämpfen, aber die Option haben wir gar nicht groß überlegt. Wir überlegen eher, was wir machen, wenn wir gewinnen. Dann würden wir auch dableiben, um zu kontrollieren und zu zeigen, dass sie nicht machen können, was sie wollen.

STANDARD: Die Klage wurde finanziell und mit der juristischen Expertise von Greenpeace unterstützt. Kritische Stimmen werfen den Klimaseniorinnen vor, der Umweltschutzorganisation lediglich als "Marionetten" zu dienen. Ist an dem Vorwurf etwas dran?

Wydler-Wälti: Nein, aber das ist natürlich typisch. Es werden Gründe gesucht, um uns handlungsunfähig zu machen und uns überhaupt nicht ernst nehmen zu müssen. Wir stehen dazu, Greenpeace hat die Idee gehabt und uns aufgesucht. Sie brauchten Klägerinnen, und wir brauchen die Unterstützung – vor allem finanziell, und sie machen auch das Sekretariat. Wir sind beide aufeinander angewiesen, und es ist eine sehr gute, schöne Zusammenarbeit. Als Marionetten fühlen wir uns nicht. Wir sind selbstständig und können machen, was wir wollen. Der Gedanke, dass alte Frauen sowieso nichts selbst erreichen können, ist eine Fantasie – wahrscheinlich eine von alten weißen Männern.

STANDARD: Wie kommt Ihre Klage bei den Schweizerinnen und Schweizern an?

Wydler-Wälti: Das ist noch schwierig. Ich erlebe immer wieder Menschen, die uns gratulieren und toll finden. Wir werden auch oft eingeladen zu Vorträgen, und da sind normalerweise alle begeistert. Aber ich habe einige Freundinnen, die keine Mitglieder sind bei den Klimaseniorinnen, und sie geben dafür keinen konkreten Grund an. Das verstehe ich nicht. Es gibt auch immer noch Leute, die uns egoistisch finden, weil sie nicht checken, weshalb wir für unsere Gesundheit klagen. Das geht vielen nicht in den Kopf. Sie sagen "Wir sterben relativ bald, und warum sollen wir für unsere Gesundheit klagen? Wir müssen doch für die Jugend klagen" – aber das tun wir ja. Wenn wir gewinnen, dann gewinnen alle.

STANDARD: "Die Schweiz unterminiert die globalen Anstrengungen gegen den Klimawandel", hat einer Ihrer Anwälte bei der Anhörung gesagt. Inwiefern sehen Sie diesen durchaus harten Vorwurf gerechtfertigt?

Wydler-Wälti: Die EU ist beim Klimaschutz viel weiter als die Schweiz. Wir sind zu träge und zu ängstlich, was die Wirtschaft betrifft. Ich finde das skandalös, dass wir davon reden, dass unser Wirtschaftswachstum immer gleich bleiben muss, während die Emissionen vor allem dem Globalen Süden schaden, wo viele Wetterkapriolen sind und Menschen umkommen. Das ist einfach nicht ethisch vertretbar. Wir müssen uns als Schweiz anders verhalten und anders bekennen.

STANDARD: Eine Sprecherin von Irland – das Land hat sich während der Anhörung als Drittpartei geäußert – kritisierte, dass mit der Klage der demokratische Prozess umgangen werden soll. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?

Wydler-Wälti: Alle Gegnerinnen und Gegner wollen natürlich, dass wir politisch vorgehen. Es ist ein Novum, dass so ein Thema juristisch angegangen wird. Wir wollen diese beiden Wege nicht gegeneinander ausspielen. Das Thema ist existenziell, sodass wir alle möglichen Wege beschreiten müssen. Es steht jedem Bürger und jeder Bürgerin frei, wenn sie sich nicht vertreten fühlt von der Regierung oder sogar gefährdet, sich ans Gericht zu wenden.

STANDARD: Aber müssen Klimamaßnahmen nicht im politischen und gesellschaftlichen Konsens gefunden werden, anstatt gerichtlich angeordnet? Die Gesellschaft muss sie ja mittragen.

Wydler-Wälti: Das wird die Crux sein – selbst wenn wir gewinnen, ist bei unserem demokratischen System die große Schwierigkeit, dass der Bundesrat selbst gar nicht so viel Macht hat. Er muss den Antrag zurück ins Parlament schicken, und dort sind die Bürgerlichen in der Überzahl. Sie werden versuchen, Maßnahmen zu verzögern. Das ist uns bewusst. Der Weg muss dann aber begangen werden. Es gibt nämlich einen Ministerrat im EGMR, und der verlangt jedes Jahr ein Protokoll, in dem die Schweiz darlegen muss, wie viel sie gemacht hat. Der internationale Druck auf die Schweiz wird auch größer werden, sodass sich die Regierung nicht mehr trauen wird, beliebig Maßnahmen hinauszögern.

STANDARD: Haben Sie denn das Gefühl, die Schweizerinnen und Schweizer würden hinter Klimamaßnahmen stehen?

Wydler-Wälti: Nicht alle, das ist klar. Viele wollen Wirtschaftswachstum und fühlen sich wohl, wie sie jetzt leben. Das heißt aber auch, entsprechend viel CO2 zu emittieren. Je höher der Lebensstandard ist, desto mehr emittieren wir. Zu erreichen, dass man Einbußen hinnimmt oder sogar dafür ist, das wird schwierig werden, aber es braucht Maßnahmen und Gesetze. Als damals die Gefahr des Ozonlochs stieg, wurden zum Beispiel FCKW-Stoffe in den Sprays verboten, und Autos mussten Abgase reduzieren. Zunächst gab es ein großes Aufschreien, und dann hat man bemerkt, es bringt halt doch etwas. Die Regierung müsste sich viel mehr trauen, Verbote und Maßnahmen anzuordnen.

STANDARD: Abgesehen von der Klimaklage – welche Maßnahmen fordern Sie als Klimaseniorinnen denn ganz konkret von der Schweizer Regierung? Tempo 100? Aus für Verbrennungsmotoren? Schnelleren Ausbau von erneuerbarer Energie?

Wydler-Wälti: Die schnellere Umstellung auf Erneuerbare und vor allem auch ein Verbot des Einbaus von fossilen Heizungen werden auf jeden Fall die Hauptthemen sein. Der Einbau von neuen fossilen Heizungssystemen ist in manchen Kantonen immer noch erlaubt. Das kann man sich ja fast nicht vorstellen. Dagegen müssten Maßnahmen, Verbote und Gebote dringend umgesetzt werden und zum Beispiel auch angeordnet werden, dass in allen Kantonen sämtliche Verwaltungsgebäude, Spitäler, Schulen et cetera mit Solarzellen bestückt werden. Es ist natürlich nicht unsere Aufgabe, der Regierung vorzuschreiben, was sie zu tun hat – das wissen sie selber.

STANDARD: Was erwarten Sie sich eigentlich von der Klimakonferenz in Dubai?

Wydler-Wälti: Leider gar nichts. 80.000 Menschen sind dahin geflogen, schon das ist ein Irrsinn, dafür, dass es dann am Schluss wieder heißt, sie konnten sich nicht einigen. Das Gastgeberland ist skandalös und investiert weitere Milliarden in fossile Energien, die sie natürlich beibehalten wollen, und sie wollen sich gleichzeitig stark machen, indem sie auch die Erneuerbaren ausbauen. Da bin ich leider skeptisch. Obwohl es jetzt ganz, ganz dringend wäre – bis 2030 pressiert es wirklich. Jetzt wissen ja alle Länder, wie viel sie reduzieren müssten, aber ob sie dazu gewillt sind, das glaube ich leider nicht. (Julia Beirer, 2.12.2023)