Der "Arbeitskreis für Frauen in der Physik" der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft (ÖPG) wurde vom Physiker Günther Bauer am 4. Dezember 1992 gegründet. Bedeutende Physikerinnen, wie Monika Ritsch-Marte und Claudia Draxl, haben den Arbeitskreis als Vorsitzende über die Jahre hinweg bereichert. Seit 2016, nach Rückzug der letzten Vorsitzenden, blieb der Arbeitskreis, damals bereits "Arbeitskreis für Chancengleichheit Physik" genannt, inaktiv. Nun wurde während der letzten gemeinsamen Jahrestagung der Österreichischen (ÖPG) und Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft (SPG) im September 2023 der Arbeitskreis nach sieben Jahren reaktiviert. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass das Thema gar keine große Rolle mehr in der Physik spielt – das ist aber nicht so, wie wir im Folgenden darlegen werden.

Wo stehen wir?

Laut aktuellen Zahlen, die auf der Website unidata.gv.at zur Verfügung gestellt werden, sind in Österreich circa dreißig Prozent der Studierenden im Physikstudium weiblich. Der Anteil an Physikerinnen nimmt mit jeder weiteren Karrierestufe von Beginn des Studiums an über das Masterstudium und Promotion, bis hin zur Berufung, kontinuierlich ab. Die Anzahl an Physikprofessorinnen an österreichischen Universitäten liegt zurzeit bei rund zwölf Prozent, wie die untere Grafik darstellt. Dieses Phänomen ist als Leaky Pipeline, oder auch vertikale Segregation, bekannt.

Grafik
Leaky Pipeline in der Physik.
A. Navarro Quezada

Schon 2009, im Rahmen der gemeinsamen Jahrestagung der SPG und ÖPG, wurde das Thema der geringen Anzahl an Frauen in der Physik mit dem Vortrag "How to increase the percentage of female physicists?” von Barbara Kessler thematisiert. Der Vortrag versuchte eine Erklärung zu liefern, wieso viele junge Frauen auch heutzutage noch zögern, sich für eine Karriere in der Physik zu entscheiden. Dabei wurde unter anderem erläutert, dass die Entscheidung öfters auf gesellschaftlichen Vorurteilen basiert, obwohl viele dieser Frauen hoch talentiert für eine physikalische Karriere wären. Physik gilt in weiten Teilen der Gesellschaft als "männliche" Domäne, dieses Stereotyp aufzubrechen ist bis heute nur mäßig gelungen.

Mögliche Gründe für die vertikale Segregation in der Physik

In ihrer Schrift "Fachkulturen und Geschlecht in den Natur- und Technikwissenschaften – Forschungsergebnisse am Beispiel der physikalischen Fachkulturen", gibt Martina Erlemann, Professorin für Wissenschafts- und Geschlechtersoziologie in der Physik an der Freien Universität zu Berlin, die möglichen Gründen für die vertikale Segregation an. Einerseits sind die hohen Karriereanforderungen in der Forschung, wie zum Beispiel die ständige Verfügbarkeit, ein großes Thema. Andererseits liegen wichtige Karrierestufen, wie die Promotion und Habilitation, öfters in einer Lebensphase, in der die Familiengründung eine wichtige Rolle spielt. In einer Gesellschaft, in der noch immer von Frauen erwartet wird, dass sie sich vorrangig um den Nachwuchs kümmern, wird eine frühe Rückkehr zum Berufsalltag nach der Geburt kritischer gesehen als bei Männern.

Ein weiterer Grund für die vertikale Segregation ist, dass Frauen in ihrem Werdegang seltener eine Vollzeitanstellung haben, was die soziale Integration in der Fachcommunity erschwert oder verzögert. Die bereits wissenschaftlich belegten Benachteiligungen bei Begutachtungsanträgen, Publikationen und Vorträgen von Wissenschaftlerinnen in Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, spielen hier auch eine große Rolle. Aber auch die Fach- und Arbeitsplatzkultur beeinflussen die vertikale Segregation, weil im wissenschaftlichen Alltag Geschlechterunterschiede oft erst relevant gemacht werden.

Vergeschlechtlichung in der Physik und die Wichtigkeit der Chancengleichheit

Geschlecht sollte im Studium und den weiteren Verlauf einer Karriere in der Physik keine Rolle spielen. Dennoch zeigen alltäglichen Beobachtungen im Studium und am Arbeitsplatz, dass eine Vergeschlechtlichung nach wie vor stattfindet. Zwei Beispiele von Andrea Navarro Quezada illustrieren das:

"Als ich eine neue Stelle als Postdoc in Berlin antrat, musste ich Messungen an einer Vakuumkammerdurchführen, die von einem ehemaligen männlichen Postdoc für sich maßgeschneidert gebaut und an seine Größe von ca. 1.85 Metern angepasst wurde. Als der ehemalige Postdoc kurz darauf zu Besuch im Labor vorbeikam, machte er die Bemerkung, ich könne so intelligent sein, wie ich wolle, ich sei für die Stelle einfach ungeeignet, weil ich zu klein für die Vakuumkammer sei. Durch den Bau dieser 'personalisierten' Vakuumkammer, waren aber alle Physikerinnen und Physiker unter 1.80 Meter Größe nach seiner Logik für die Stelle ungeeignet."

"Zurück in Linz als ich und meine Doktorandin einen ehemaligen Arbeitskollegen wegen der unpraktischen und unfreundlichen Benutzeroberfläche seiner selbstentwickelten Software ansprachen, antwortete er ohne zu überlegen, er könne die Benutzeroberfläche für uns rosa färben, damit wir es besser verstehen würden."

Vorurteile – ein Zeichen von Ignoranz

Die betreffenden männlichen Kollegen und Professoren merken oft nicht, dass ihre gehegten Vorurteile gegenüber Frauen, die sich in diesen Kommentaren widerspiegeln, ein Zeichen von Ignoranz sind, die sich nur mit den Irrglauben der vorigen Jahrhunderte vergleichen lässt, als Frauen wegen ihrer Periode oder ihrer angeblich kleineren Gehirngröße als ungeeignet fürs Studium betrachtet wurden. Bedauerlicherweise haben solche unbewussten Kommentare oft das Ergebnis, dass Physikerinnen sich nicht in der Fachcommunity willkommen fühlen und darum eine akademische Karriere nicht weiterverfolgen. Auch wenn Beispiele, wie die hier beschriebenen, die Ausnahme darstellen, so trägt jeder abwertende Kommentar einzelner Personen zur Aufrechterhaltung des Status Quo bei. Auch Verena Auer kann von derartigen Kommentaren berichten:

"Während des Lehramtsstudiums für das Unterrichtsfach Physik erlebten meine Studienkolleginnen und ich leider hin und wieder abwertende Kommentare von männlichen Kommilitonen. Beispielsweise waren manche der Ansicht, dass wir Frauen dieses Studium aufgrund vermeintlich mangelnder Intelligenz ohnehin nicht schaffen würden. Als ich die Anstellung als studentische Mitarbeiterin an der Uni Salzburg erhalten habe, sagte ein abgelehnter männlicher Kollege zu mir, dass ich nur genommen worden sei, weil ich –sinngemäß – eine 'Quotenfrau' wäre."

"Auch manch männlichem Professor rutschte in der Physikvorlesung ein unglücklich gewähltes Beispiel heraus: In Salzburg gibt es eine Gedenktafel am Geburtshaus von Christian Doppler. Der Professor meinte, dass das betreffende Gebäude den weiblichen Studierenden eventuell bereits aufgefallen sei, weil darin auch eine Parfümerie vorzufinden ist."

Bewusstsein schaffen

Wir möchten darauf hinweisen, dass wir bewusst das Thema der sexuellen Belästigung nicht angesprochen haben, wo "harmlose" Kommentare von Kollegen auf das Aussehen oder die Kleidung von Kolleginnen oder den Machtmissbrauch von Betreuern gegenüber deren Studentinnen nicht inkludiert worden sind, weil ein einzelne Blogbeitrag bei Weitem nicht genügen würde, um die Erfahrungen in dieser Richtung zu erläutern.

Die Gleichstellung der Geschlechter und die Herstellung von Chancengleichheit ist das Ziel internationaler, politischer Agenden und wird zum Beispiel in den Zielen für Nachhaltige Entwicklung (engl. Sustainable Development Goals) angestrebt. Chancengleichheit bedeutet, dass alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Ideologie, usw. ihre Karriereziele erreichen können. Dennoch zeigen uns die oben genannten Zahlen, das dies öfter nicht der Fall ist.

Um eine bessere Chancengleichheit für Physikerinnen zu schaffen, müssen Vorurteile und die Vergeschlechtlichung im Physikalltag verschwinden. Es wird die Aufgabe des neuen ÖPG-Arbeitskreises für Chancengleichheit in der Physik sein, sich genau diesen Themen anzunehmen und Bewusstsein dafür zu schaffen, um bessere Rahmenbedingungen zu etablieren, die Physikerinnen eine Karriere in der Physik ohne die oben angesprochenen Hürden zu ermöglichen. Denn nur durch mehr Bewusstsein und die Mitarbeit und Engagement von Physikerinnen und Physikern, kann eine Veränderung langfristig erzielt werden. (Andrea Navarro Quezada, Verena Auer, 12.12.2023)