Christian Lindner
Christian Lindner muss derzeit Überstunden einlegen. Der deutsche Finanzminister und FDP-Vorsitzende wurde vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts kalt erwischt. Es gab keinen Plan B.
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Dass er kneifen würde, kann man Christian Lindner nicht vorwerfen. Zwanzig Minuten lang beantwortete er diese Woche im ZDF viele Fragen. Angenehm war das für den deutschen Finanzminister und FDP-Vorsitzenden natürlich nicht.

Denn es gibt in Deutschland seit Tagen nur ein Thema: die Budgetmisere der Ampel. Und dazu die Frage: Wie konnte das passieren? Wie konnte es dazu kommen, dass das Verfassungsgericht den Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig und damit "nichtig" erklären musste und 60 Milliarden Euro an Kreditermächtigungen einkassierte?

Ampel im Feuer

So etwas hat es noch nie gegeben. Natürlich steht in Berlin die gesamte Ampel im Feuer. Kanzler Olaf Scholz (SPD) musste im Bundestag eine Regierungserklärung zum finanziellen Elend abgeben. Erhellend war diese nicht. Immer noch herrscht keine Klarheit, wie die Ampel das Budgetloch stopfen will.

17 Milliarden Euro fehlen laut Lindner im Haushalt 2024. Der wurde noch gar nicht erstellt, die Verabschiedung im Bundestag wurde verschoben, weil sich die Ampel nach dem Schlag aus Karlsruhe noch sortiert.

Und dennoch: Auf einen fällt der grelle Scheinwerfer derzeit besonders erbarmungslos. Es ist Finanzminister Lindner, der Herr über Milliarden und Milliardenlöcher.

Peinlicher Moment

Die Regierung habe weder fahrlässig noch vorsätzlich gehandelt, versicherte er im ZDF. Doch er musste auch einräumen: "Es ist völlig klar, dass das für eine Regierung ein außerordentlich unangenehmer und peinlicher Moment ist."

So selbstsicher und selbstbewusst wie sonst klang der 44-Jährige dabei nicht. Denn natürlich weiß Lindner: Es ist vor allem für ihn persönlich äußerst unangenehm und peinlich.

Seit Amtsantritt der Ampel 2021 spinnt die FDP gern folgendes Narrativ: Sozialdemokraten und Grüne können eigentlich nicht haushalten, sie wollen das Geld mit allen Händen ausgeben, um soziale Wohltaten und Klimaschutzprojekte zu ermöglichen. Es braucht die FDP als Korrektiv. Nur sie schaut auf das Geld der Deutschen. Nur sie achtet darauf, dass nicht zu viele neue Schulden gemacht werden und die Schuldenbremse eingehalten wird.

Verschobene Schuldenbremse

Jetzt aber taugt diese Erzählung nicht mehr. Ausgerechnet der FDP-Finanzminister musste nach dem ersten Schock über das Urteil verkünden, dass für 2023 ein Nachtragshaushalt nötig ist. Das bedeutet, dass die 2009 eingeführte Schuldenbremse wieder nicht eingehalten wird, zum vierten Mal in Folge.

2020, 2021 und 2022 kämpfte Deutschland, wie andere Länder auch, mit den Folgen von Corona. 2022 kam auch noch der Ukrainekrieg dazu, der den Ausfall von billigem Gas aus Russland zur Folge hatte.

Vorgabe des Grundgesetzes

Aber 2023 hätte Lindner eigentlich wieder auf dem Pfad der finanzpolitischen Tugend sein wollen und die Neuverschuldung, wie im Grundgesetz vorgesehen, unter 0,35 Prozent des BIP halten. Er hat es nicht geschafft.

Und noch etwas trägt zu schweren Blessuren an Lindners Image bei: dass er offensichtlich keinen Plan B hatte.

Denn die Regierung war ja mit Blick auf ihre Umbuchung von 60 Milliarden Euro an übriggebliebene Corona-Hilfen in einen Klimafonds gewarnt worden. Ende November 2022 kritisierte der Chef des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller: "Viele Nebenhaushalte und eine immer kreativere Buchführung sorgen für Intransparenz." Das Finanzministerium wies dies damals zurück.

Das Gefühl der Unbesiegbarkeit

Das Urteil des Verfassungsgerichts kam außerdem auch nicht aus heiterem Himmel. Im Juni 2023 hatte die mündliche Verhandlung stattgefunden, am 15. November erfolgte "im Namen des Volkes" der Richterspruch.

Lindner hätte in der Zeit mal ein Urteil gegen seine Politik in Erwägung ziehen können und sich einen Ausweg für den Fall des Falles überlegen können.

Aber im deutschen Finanzministerium fühlte man sich unbesiegbar. Als die Richterinnen und Richter in ihren roten Roben dann ihre Entscheidung bekanntgaben, konnte ganz Deutschland über Tage hinweg Lindners hektische Handlungen verfolgen.

Zahltag

Sperre des Klimafonds, Sperre des Wirtschaftsstabilisierungsfonds, Sperre des gesamten Haushaltes, Ankündigung eines Nachtragshaushalts für 2023, Verschiebung der Beschlussfassung des Etats 2024. Lindner war plötzlich ein Getriebener, keiner mehr, der alles im Griff hat und einen Plan verfolgt.

Das war einmal ganz anders. 2013 lag die FDP am Boden, sie war damals aus dem Bundestag geflogen. Zum ersten Mal seit 65 Jahren saßen im deutschen Parlament keine Freien Demokraten mehr. Ein Grund für diese Zäsur hatte auch mit Geld zu tun.

Der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle hatte im Wahlkampf 2009 eine große Steuerreform versprochen. Doch in der schwarz-gelben Koalition unter der Führung von Angela Merkel war er lieber Außenminister und überließ das Finanzministerium Wolfgang Schäuble (CDU). Und der blockierte das Vorhaben der FDP. Am Wahltag 2013 war dann Zahltag für die Liberalen.

One-Man-Show zur Rettung

Wenig später übernahm Lindner den Parteivorsitz. Er stand vor den Trümmern, krempelte aber die Ärmel hoch, tingelte als One-Man-Show durchs Land und nahm jede Gelegenheit wahr, für seine Partei zu werben.

Noch heute sagen jene, die dabei waren, man verdanke es vor allem Lindner, dass die FDP 2017 in den Bundestag zurückkehrte.

Es hätte auch gleich in eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen gehen können. Doch die Sondierungsgespräche beendete Lindner nach kurzer Zeit mit den berühmten Worten: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren." Erst vier Jahre später – im Herbst 2021 – war es so weit. Lindner führte die FDP in die erste Ampel auf Bundesebene.

Ewige Rivalen

Ähnlich wie sein ewiger Rivale, der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, ist Lindner einer, der polarisiert. Sein Faible für Porsche ist vielen Ausdruck eines kaltherzigen Leistungsprinzips. Seine prunkvolle Hochzeit auf Sylt 2022 kam auch nicht nur gut an. Linder hingegen kontert, dass er sein Geld selbst verdiene, und sagt: "Wer damit ein Problem hat, der soll in Gottes Namen eben eine andere Partei wählen."

Das tun, in der Tat, seit der Bundestagswahl 2021 immer mehr Menschen. Die FDP verliert eine Landtagswahl nach der anderen, in bundesweiten Umfragen liegt sie nur noch zwischen fünf und sechs Prozent. Diese ohnehin bescheidene Zahl könnte nun noch kleiner werden.

"Für uns ist klar: Staatsschulden sind eine Gefahr für die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion", hat Lindner im Wahlkampf 2021 gesagt und wenig später, als Finanzminister dann, einmal erklärt: "Lieber neue Wahlen als neue Schulden."

Neuausrichtung

Jetzt kann Lindner heilfroh sein, dass gerade keine Wahl ansteht. Immer noch ist die Partei ganz auf ihn ausgerichtet. Er führt das Finanzministerium und die FDP – und ist damit das einzige Regierungsmitglied in der Ampel, das auch Parteichef ist.

Und es grummelt auch in der Partei. Liberale an der Basis haben eine Mitgliederbefragung über den Verbleib in der Ampel erzwungen, die demnächst beginnt. Sie wollen raus aus dem Dreierbündnis, bevor die FDP wieder, wie schon 2013, pulverisiert wird.

Ob es dazu kommt, wird nun maßgeblich von Lindners Krisenmanagement abhängen. Im Moment betont er auffällig, dass sein Wirken als Finanzminister ja Früchte trage. So sei die Schuldenquote Deutschlands von 69 auf 64 Prozent gesunken, das Staatsdefizit von 3,6 auf 1,5 Prozent. "Die Richtung stimmt", meint der Finanzminister. Aber diesen Optimismus wollen die wenigsten mit ihm teilen. (Birgit Baumann, 2.12.2023)