Leo Moser zeigt mit seinem Skistock hinauf zum Rofenkarferner und sagt: "Der Gletscher hat sich massiv zurückgezogen, in meiner Kindheit ging er viel weiter herunter." Solche Erinnerungen hat nicht nur er, aber: Leo Moser ist angehender Bergführer und erst 22 Jahre alt. Der Klimawandel bereite ihm Sorgen, um seinen Job fürchtet er aber nicht. Moser ist der Enkel des legendären Bergführers Luis Pirpamer und nimmt den STANDARD mit auf eine Skitour in seinem Heimatort Vent, tief drinnen im Tiroler Ötztal. Das Panorama ist gewaltig. Die Wildspitze ragt majestätisch in die Höhe, und auch der Blick auf den Similaungletscher, die Fundstelle von Ötzi, ist frei.

"Gletscherspalten werden größer, die Bedingungen schwerer. Bergführer sind gefragter denn je." Das gelte auch für Klettertouren im Sommer, sagt er und zieht weiter eine Spur in den Schnee.

Ein Bergführer steht mit Ski auf der Piste und zeigt mit dem Stock zu einem Berg.
Leo Moser ist seit 20 Jahren der erste Einheimische in Vent, der die Bergführer-Ausbildung macht.
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Sanfter Tourismus

Von der Skimetropole Sölden führt eine Straße ins Bergsteigerdorf Vent, die Fahrt dauert rund 20 Minuten. Mit dem Söldener Trubel will man dort nichts zu tun haben, man setzt auf sanften Tourismus. An der Hauptstraße schließt etwa direkt an das schönste Hotel des Orts ein Bauernhof an. Kein Club, kein lautes Trara. Es gibt nur vier Skilifte, der Fokus liegt auf Tourengehen und Wandern im Sommer. Das funktioniert. Auch wenn das Wort "sanft" Platz für Interpretationen lässt. Auf 140 Einwohner kommen 900 Gästebetten.

Der Ansatz findet auch bei jungen Einheimischen Anklang. "Ich würde nicht nach Sölden wollen, aber es braucht die Söldens und Ischgls für die breite Masse, trotzdem hat das ruhigere Konzept eine große Zukunft", ist sich Moser sicher. Auch die 34-jährige Spitzenköchin Anna Pirpamer vom Hotel Post sieht das so. Doch beiden fehle ein Treffpunkt für Einheimische, es sei lange her, dass es so etwas gegeben hat.

Fehlende Nachhaltigkeit

Dieser fehlende Treffpunkt steht für viel mehr, er steht für fehlende Nachhaltigkeit – allerdings abseits der jährlichen Debatten rund um Skisport als Klimasünde, den Weltcup-Auftakt und Gletscherschmelze. Jahrzehntelang wurde es verabsäumt, die lokale Bevölkerung nachhaltig in den Tourismus zu integrieren – ein Problem, das in Sölden noch viel schwerer wiegt als in Vent, meint der Obmann des Ötztal-Tourismus, Benjamin Kneisl: "Sehr vieles ging gut, doch bei dieser Einbindung der lokalen Bevölkerung waren wir grottenschlecht, deswegen gibt es auch negative Stimmung gegenüber dem Tourismus."

Viele junge Menschen wandern ab, Wohnraum fehlt, und Hotels werden von ausländischen Investoren übernommen, weil es sich Einheimische nicht leisten können. Laut Kneisl gebe es Pläne und Projekte, um die Wohnsituation zu verbessern – bei Quadratmeterpreisen von bis zu 10.000 Euro könnten die meisten nicht mit.

Die Diskussionen rund um den frühen Saisonauftakt werden jedes Jahr intensiver.
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Auch andere Zahlen zeigen den Aufholbedarf. Jährlich schließen vier bis fünf Leute eine Koch/Kellner-Lehre ab, maximal zwei davon bleiben dann tatsächlich im Tal. Oder Leo Moser, er ist der erste Einheimische seit 20 Jahren, der Bergführer wird. Ohne Hilfe aus dem Ausland geht schon lange nichts mehr, um die vier Millionen Nächtigungen jährlich zu bewältigen.

Landflucht und Flächenverbrauch

Im Ötztal wurden Probleme erkannt, die Landflucht, der Flächenverbrauch, die Bodenspekulation – deswegen gibt es seit einem Jahr einen Nachhaltigkeitsbeauftragten. Er heißt Raphael Kuen, ist selbst Ötztaler und hat eine Mammutaufgabe übernommen. Wo anfangen? "Es gibt ein Nachhaltigkeitsgesetz und eine Tiroler Nachhaltigkeits- und Klimastrategie, viel passiert ist noch nicht", sagt Kuen.

Verbesserungen im Abfallsystem habe er erreicht, oder dass es bei Festivals wiederverwendbare Hartplastikbecher gibt, doch seine Ziele sehen anders aus. "Ein Bettenbaustopp wäre gut, auch wenn das Beispiel Südtirol zeigt, dass es immer Hintertüren gibt", sagt Kuen. Zudem setze er sich für eine Nachhaltigkeitsabgabe von 50 Cent pro Nacht ein. Kuen bekleidet eine spannende Position. Seine Arbeit soll dem Lebensraum und der lokalen Bevölkerung und nicht in erster Linie der touristischen Marke dienen – doch angestellt ist er beim Ötztal-Tourismus.

An Küchenpersonal mangelt es massiv. Ohne ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wäre der Betrieb in Sölden nicht machbar.
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Regional und saisonal

Da Kuen ursprünglich aus der Rinderzucht kommt, liegt ihm die Kulinarik im längsten Seitental Tirols am Herzen. Er hat einen Pilotbetrieb mit einer Handvoll Betriebe und Hütten gestartet, die zur Gänze auf Regionalität und Saisonalität setzen. "Nein, haben wir gerade nicht", sollte ein neuer Ansatz sein. Man brauche im Jänner keine Erdbeeren.

Einer der teilnehmenden Betriebe ist die Brandlalm – Schafe leben auf der Weide vor der Haustür, werden ganz in der Nähe geschlachtet, und in der urigen Gaststube gibt es dann Lammbraten. Gemüse und Obst kommen auch aus dem Tal.

Kühe aus dem Ötztal

Auf mehr Regionalität setzen auch die Riml-Betriebe, einer der Platzhirsche im Tal. Vorigen Winter wurden 50 ganze Tiroler Almrinder verarbeitet. Das sei ein guter Anfang, meint ein erfahrener Koch aus der Region. Plätze in Lokalen sind während der Saison teilweise recht rar. In Sölden ein Bett zu bekommen, sei kein Problem, bei einem Tisch in einem Restaurant sehe das ganz anders aus, heißt es im Tal.

Mehr erhofft hätte sich der Landwirt Johannes Klotz, er hat 55 Rinder im Stall und hatte gehofft, die Bergbahnen würden ihm mehr abnehmen. "Es war relativ wenig, verglichen mit den Mengen, die verbraucht werden." Oftmals bevorzuge man im Tourismus Rinder aus Südamerika, sagt Klotz. "Zugegeben, deren Fleischqualität ist ein bisschen besser, aber Rinderzucht auf 1.200 Meter Seehöhe ist schwieriger, und das Fleisch muss nicht um die halbe Welt."

Diese Kühe leben am Klotz-Hof im Ötztal auf über 1.000 Meter Seehöhe. Jede der 55 Kühe hat einen Namen.
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Einst, lange vor Après-Ski und Fünfsternehotels, lag die Stärke alpiner Täler darin, so mit Ressourcen umzugehen, dass es auch für die nächsten Generationen reicht – da will Kuen wieder hin, doch mit dem Wachstumsdrang im Tourismus ist das schwer vereinbar. Im Ötztal würde sich niemand gegen Nachhaltigkeit aussprechen, aber zumindest bei großen Touristikern lautet das wahre Credo Wachstum. "Erfolgreicher Tourismus geht nur mit ständiger Weiterentwicklung", sagt Bergbahnchef Jack Falkner.

"Wie im Alpenzoo"

Er verteidigt alle Maßnahmen rund um den frühen Weltcup-Start vehement, hält an der Gletscherehe, der umstrittenen Verbindung zwischen Ötz- und Pitztal, fest und lasse sich von Leuten in Wien nicht erklären, wie man im Ötztal zu leben habe. "Es gibt genügend unberührte Orte, die sollen das bleiben. Aber Sölden ist bereits erschlossen, wir wären blöd, das nicht weiter zu nutzen. Der Tourismus hat dem Tal Wohlstand gebracht, deswegen kämpfe ich weiter für künftige Generationen", meint Falkner. "Eingepfercht wie im Alpenzoo läuft das hier, und das ist gut so."

Jährlich gibt es knapp drei Millionen Nächtigungen im "eingepferchten" Sölden. Von Massentourismus wollen Touristiker aber nichts hören. "Wäre ein Industriebetrieb so wenig ausgelastet wie unsere Hotels, würde er nicht einmal aufsperren", sagt Falkner. Tourismusverband-Obmann Kneisl pflichtet ihm bei. "Amsterdam, das ist Massentourismus. Richtig voll ist es ohnehin nur sechs Wochen im Jahr." (Andreas Danzer aus Sölden, 4.12.2023)