Deutschland steckt in einer bizarren Krise. Das Land muss sparen oder Steuern erhöhen, obwohl die Bundesrepublik weniger hoch verschuldet ist als andere große Industrieländer. Das ist die Folge eines Höchstgerichtsurteils zur deutschen Schuldenbremse. In der Bundesrepublik ist die Schuldenbremse in der Verfassung verankert – ein Schritt, der auch in Österreich immer wieder gefordert wird. Was hat es mit der deutschen Budgetkrise auf sich? Ein Gespräch mit dem Ökonomen Lars Feld, der auch Deutschlands Finanzminister Christian Lindner (FDP) berät, der nun auf die Einhaltung der strengen Regeln pocht.

STANDARD: Griechenlands ehemaliger Energieminister Panagiotis Lafazanis empfiehlt Deutschland, ein paar Inseln zu verkaufen, um seine Staatsfinanzen zu ordnen. Wie schlimm ist es um Deutschlands Finanzen bestellt?

Feld: Offensichtlich sind da immer noch alte Wunden aus der Griechenland-Krise offen. Aber die Problemlage ist in Deutschland natürlich eine völlig andere. Griechenland hatte in der Eurokrise den Zugang zum Kapitalmarkt verloren, der Staat kam nicht an Kredite. Deutschland hat kein Problem dieser Art. Wir sind von den Ratingagenturen mit Bestnote, einem Triple A, bewertet. Aber wir haben eine Schuldenbremse, die im Jahr 2009 eingeführt wurde, nachdem über einige Jahrzehnte die Staatsschuldenquote immer weiter angestiegen war. Wenn das immer weiter nach oben geht, hat man irgendwann ein Problem. Deshalb haben wir die Bremse eingebaut.

STANDARD: An der sich das Land bisher vorbeigemogelt hat.

Feld: Es gibt immer wieder die Tendenz zur Umgehung. Die Schuldenbremse besteht aus zwei Komponenten. Sie enthält eine Regel für normale Zeiten: Diese erlaubt, dass sich der Bund maximal in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr strukturell verschulden darf. Aufseiten der Länder muss es eine strukturelle schwarze Null sein. Läuft es wirtschaftlich schlechter, darf der Staat aus konjunkturellen Gründen etwas mehr an Krediten aufnahmen.

STANDARD: Und dann gibt es da noch die Ausnahmeregel.

Feld: Wenn ein schwerer Schock wie eine Naturkatastrophe das Land trifft, kann sich der Staat grundsätzlich in unbeschränkter Höhe verschulden. So eine Notlage hatten wir 2021 als Folge der Corona-Krise. Die Regierung hat die ihr damals eigeräumten Ermächtigungen für Kredite nicht voll genutzt und diese Kreditermächtigungen in die kommenden Jahre übertragen. Dies wurde aber als Verschuldung im Jahr 2021 angerechnet, als sich der Bund wegen der Notlage höher verschulden durfte. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht erlaubt.

STANDARD: Finanzminister Lindner sagt, dass kommendes Jahr deshalb 17 Milliarden Euro eingespart werden müssen. Deutschland kommt aus der Rezession – spart es sich wieder hinein?

Feld: Die Prognosen für das kommende Jahr gehen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt zwischen 0,7 und 1,3 Prozent wachsen soll. Wir wären nächstes Jahr im Aufschwung. Das würde gedämpft werden, wenn die 17 Milliarden wegfallen. Aber wir reden hier von einem Bundeshaushalt von 470 Milliarden Euro. Das einzusparen würde in keine Rezession führen. Ein Problem besteht allerdings, wenn man politisch nicht entscheidungsfähig ist, also nicht in der Lage ist, die bestehenden Ausgaben zu hinterfragen. Was braucht man denn eigentlich davon noch?

Ökonom Lars Feld verteidigt die Schuldenbremse.
IMAGO/Metodi Popow

STANDARD: Sie sagen, zu hoch verschulden geht nicht. Ist es nicht umgekehrt? Ganz Österreich lacht über die Verspätungen der Deutschen Bahn. Höhere Investitionen hätten die Infrastruktur vielleicht verbessert.

Feld: Heute wird der Investitionsbegriff oft falsch verwendet. Die sogenannten Investitionen in die Transformation hin zur Klimaneutralität sind zu 90 Prozent Subventionen an die deutsche Wirtschaft.

STANDARD: Sie sprechen jetzt jene 60 Milliarden für den Klimaschutz an, die über die Kreditermächtigungen hätten finanziert werden sollen, was vom Höchstgericht untersagt wurde.

Feld: Ja, und zu einem großen Teil sind das keine Investitionen. Investitionen, die Sie ansprechen, in Infrastruktur, also Schiene, Straßen, Autobahnen, Brücken, haben in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich gelitten. Aber der Rückgang ist auf kommunaler Ebene viel stärker als bei Bund und Ländern gewesen. Und das hat vor Einführung der Schuldenbremse stattgefunden, also in der Zeit von der Wiedervereinigung bis 2007.

STANDARD: Warum ist das passiert?

Feld: Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nach der Wiedervereinigung verschlechterte sich zunehmend. Seit Einführung der Schuldenbremse ist die Investitionstätigkeit des deutschen Staates, also von Bund, Ländern und Gemeinden, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts hingegen nach oben gegangen. Nicht so stark wie in Österreich, aber es ist nach oben gegangen. Wenn Sie die Bahn ansprechen: Sie ist ein privates Unternehmen. Sie hat es versäumt, ihr Netz zu ertüchtigen, weil sie andere Zielsetzungen hatte, also insbesondere sich an die Börse begeben wollte, und die Mittel, die zur Verfügung standen, für Beteiligungen genutzt hat. Das waren hochfliegende Pläne, die sich nicht realisieren ließen.

STANDARD: Es gibt ja Studien zum deutschen Investitionsstau, etwa vom Institut der deutschen Wirtschaft. Dort heißt: Die Kommunen waren finanziell überfordert, aber Länder und Bund konnte ihnen wegen der Schuldenbremse nicht aushelfen, deshalb wurde zu wenig investiert.

Feld: Deutschland hat eine marode Infrastruktur in manchen Teilen des Landes. Nicht in Bayern, aber in Nordrhein-Westfalen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat seine Kommunen finanziell unzureichend ausgestattet. Die Länder sind ja für die Kommunen verantwortlich. Diese Unterausstattung ist ein Problem. Wenn der Bund dann ein Investitionspaket nach dem anderen aufgelegt hat, wurden Mittel von den Kommunen unzureichend abgerufen. Diese Situation hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es unglaublich lange dauert, bis Genehmigungen erteilt werden. Nehmen Sie die Verzögerungen beim Berliner Flughafen oder dem Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Dort, wo Projekte geplant sind, werden sie oft durch Klagen verzögert.

Zu hoch, zu niedrig?
STANDARD

STANDARD: Alle großen Industrieländer sind höher verschuldet als Deutschland. Warum sind deutsche Ökonomen so auf das Thema Schulden fixiert?

Feld: Es ist nicht so, dass eine höhere Schuldenquote keine Rolle spielt. Die USA verfügen mit dem Dollar über die Leitwährung der Welt. Das Land hat von den Ratingagenturen trotzdem einen Downgrade erfahren und muss deshalb höhere Zinsen zahlen als Deutschland. Der Internationale Währungsfonds warnt, dass die Verschuldung vieler Länder, der Staaten wie der Privatwirtschaft, so hoch ist, dass wir Sorge haben müssen, in eine weltweite Schuldenkrise zu geraten. Da ist Deutschland eben solider aufgestellt. Gerade in der EU, wo wir noch eine ganze Reihe von Problemfällen haben mit Italien, mit Griechenland, mit Frankreich, kann Deutschland durch solide Haushaltsführung für die Stabilität des Euro-Währungssystems sorgen.

STANDARD: Für die Stabilität des Euroraums ist wichtig, dass Deutschlands Industrie viel produziert, das Land konsumiert und damit Europas Wirtschaft antreibt. Aber wie helfen niedrige Schulden?

Feld: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Preisstabilität und erhöhter Staatsverschuldung. Wir haben in der Vergangenheit häufig dann größere Krisen und Hochinflationen gehabt, wenn die Staatsverschuldung überbordend war. Die Hyperinflationen der Vergangenheit sind da nur ein Extrembeispiel. Wenn die Finanzmärkte aufgrund der hohen Verschuldung erwarten, dass die Inflation immer weiter steigt, werden die Zinsen steigen. Das wird die gesamte Wirtschaft zu spüren bekommen. Dazu kommt noch ein Faktor.

Die Schuldenuhr Deutschlands vom Bund der Steuerzahler.
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STANDARD: Welcher?

Feld: Die Höhe der heutigen Staatsverschuldung ist eher eine Bedrohung des Wohlstands. Deutschland könnte einen schweren Schock wegen eines bewaffneten Konflikts heute wirtschaftlich verkraften, weil es in der Lage ist, mit seiner nur etwas über 60 Prozent hohen Schuldenquote jederzeit mit staatlichen Mitteln dagegenzuhalten. Das können andere Staaten in dem Maße nicht. Italien hat keine Chance, seine 140-Prozent-Schuldenquote um 20 Prozentpunkte zu erhöhen, ohne in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten.

STANDARD: Aber Italien konnte doch genau das tun in der Pandemie. Eben weil die Europäische Zentralbank (EZB) dafür gesorgt hat, dass Kredite so billig geworden sind.

Feld: Dazu muss man feststellen, dass das, was die EZB in der Pandemie gemacht hat, zusammen mit der expansiven Fiskalpolitik in Europa die Grundlage für die Inflation gelegt hat, die wir jetzt bekommen haben. Und man muss schon auch sehen, dass übermäßige Inflation bis hin zur Hyperinflation das Äquivalent zu einem Staatsbankrott ist. Die Vorstellung, dass die EZB eingreifen kann, ohne neue Probleme zu schaffen, ist verfehlt. Insofern war das Problem durchaus, dass Italien die Spielräume 2020 zu Beginn der Pandemie im Budget nicht hatte, die EZB musste zuerst einspringen. (András Szigetvari, 5.12.2023)