Bärbel Strehlau mit ihrer Mutter. 
In der intensiven Zeit, in der Bärbel Strehlau ihre Mutter betreut hat, hat sie viel gelernt, erzählt sie – und sie hat auch schöne Erinnerungen gesammelt.
Bärbel Strehlau

Es sind jetzt schon gut zwölf Jahre vergangen, seit Bärbel Strehlau zum ersten Mal gemerkt hat: Irgendetwas stimmt nicht mit der Mutti, wie sie sie nennt. Wenn Strehlau damals ihre Mutter in Berlin besuchte, stellte diese immer öfter die immergleichen Fragen. "Wann bist du nochmal gekommen?" – "Wie lange bleibst du noch gleich?" – "Wann musst du wieder weg?" "Und ich habe auch in ihren Augen gesehen, dass irgendetwas nicht stimmt", erzählt Strehlau.

Mittlerweile ist die Krankheit der Mutter deutlich fortgeschrittener, trotzdem bleibt sie für Strehlau nach wie vor die Mutti: "Egal ob sie jetzt was vergisst oder nicht, irgendwie hat sich daran nichts verändert", sagt sie – und irgendwie doch alles.

STANDARD: Wie geht es Ihrer Mutter? Man kann das bei Demenzkranken ja immer nur erahnen, aber wie schätzen Sie das ein?

Strehlau: Die Medikamente greifen bei ihr sehr gut, der Verlauf war lange Zeit wirklich stark verlangsamt. Das bedeutet aber auch, dass sie den Verlauf bewusst miterlebt hat. Ich habe kürzlich sogar Tagebücher gefunden, in denen sie das tatsächlich auch genau beschreibt. Der Moment, als ihr beim ersten MRT klar war, dass sie Demenz hat. Wie es ihr damit ging, schließlich kannte sie die Krankheit von ihrer eigenen Mutter. Meine Oma ist im Endeffekt an der Demenz gestorben, mein Onkel, also ihr Bruder, hatte auch Alzheimer. Da stellt sich natürlich auch für mich die bange Frage, ob es mich einmal treffen wird. Umso rührender fand ich es, wie tapfer Mutti mit der beginnenden Demenz umging. Sie schrieb, dass sie hofft, nicht allzu schnell ihr Ich zu verlieren und dass sie noch viel Zeit mit meinem Vater verbringen kann. Das hat mich sehr berührt, als ich das jetzt im Nachhinein gelesen habe.

STANDARD: Hat sie ihr Ich mittlerweile verloren?

Strehlau: Nein, noch nicht. Aber der Verlauf der Krankheit hat sich in den vergangenen Jahren schon sehr stark beschleunigt, sodass ich sie etwa duschen musste, das kann sie nicht mehr allein. Und wenn man dann dabei ist, die eigene Mutter zu duschen und ihr zu sagen, wo sie sich waschen soll, dann geht es schon ans Eingemachte, im wahrsten Sinne des Wortes. Lange Zeit konnte ich noch mit ihr über die Demenz sprechen. Sie war sich lange dessen bewusst, dass sie vieles vergisst. Mittlerweile ist das nicht mehr so. Aber sie weiß noch ihren Namen und erkennt mich noch. Ich stelle mich allerdings darauf ein, dass sie wahrscheinlich eines Tages nicht mehr wissen wird, wer ich bin. Aber ich glaube, dass sie es immer fühlen wird.

STANDARD: Die Diagnose Demenz ist nicht nur für Betroffene, sondern vor allem auch für das Umfeld eine Herausforderung. Wie sind Sie damit umgegangen?

Strehlau: Meine Mutter ist wie gesagt sehr unerschrocken und macht immer das Beste daraus. Die Demenz ist ja bei der Diagnose auch nicht sofort in voller Ausprägung da, in dem Moment ist das alles erst einmal Zukunftsmusik. Als die Diagnose kam, haben meine Eltern deshalb für sich vorgesorgt und sind in ein Seniorenstift gezogen. Sie hatten dort aber noch eine eigene Wohnung, und mein Vater hat sich um meine Mutter gekümmert. Aber leider ist er selbst schwer an Prostatakrebs erkrankt, es ging ihm mit der Zeit immer schlechter, und er musste ins Krankenhaus. Dann war klar, Mutti kann nicht allein bleiben, was machen wir jetzt? Eine Pflegeunterstützung lässt sich ja nicht mal so eben aus dem Ärmel schütteln, das wollten wir auch nicht. Also habe ich beschlossen, zu meiner Mutter nach Berlin zu fahren und sie erst einmal selbst zu betreuen.

Aus dieser herausfordernden Situation haben sich auch familiäre Konflikte ergeben. Meine Schwester hat etwa, ohne das zu kommunizieren, versucht, einen Pflegeplatz für die Mutti zu bekommen. Der andere Teil der Familie inklusive mir wollte das verhindern und die Zeit, bis der Vater wieder aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, irgendwie überbrücken. Und man steht auch vor so vielen bürokratischen Entscheidungen, das ist ein völliger Overkill. Pflegeantrag hier, irgendein anderes Formular da. Und das alles während einer Zeit, in der man überhaupt nicht in der Lage ist, irgendetwas auszufüllen, weil man natürlich die ganze Zeit auf Mutti aufpassen muss. Wenn sie in der Nähe war, konnte ich weder telefonieren noch irgendetwas organisieren.

STANDARD: Wie haben Sie die Situation im Endeffekt gelöst?

Strehlau: Es war schon ein ziemlich harter familiärer Krieg. Aber mein Vater hat entschieden, dass sie zu Hause bleibt und er nach seinem Krankenhausaufenthalt weiter für sie sorgen wird, gemeinsam mit Pflegeunterstützung. Das war der Kompromiss, der ihnen am Ende noch zwei Jahre gemeinsames Leben beschert hat.

Aber es ist ein irrsinniger emotionaler Aufwand, die eigenen Eltern von Pflegeunterstützung zu überzeugen. Die sagen dann "Ja, wir können das schon alles allein, und wir wollen keine Fremden in der Wohnung". Das ist alles ein langer Prozess. Das Altwerden ist eine Zumutung, muss ich wirklich sagen. Wir wussten natürlich, dass irgendwann der Punkt kommen wird, wo es unvermeidlich sein wird, dass die Mutti in eine Demenz-WG oder in ein Pflegeheim kommt. Also spätestens, wenn der Vater die Pflege nicht mehr übernehmen kann. Sich das einzugestehen ist sehr schmerzlich.

STANDARD: Ihre Schwester hat den Pflegeplatz also wieder storniert?

Strehlau: Na ja, nicht wirklich. Im Endeffekt habe ich die Mutti wieder aus dem Heim befreit. Aber ich musste sie einen Tag dort einchecken. Das war das Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben tun musste.

STANDARD: Warum?

Strehlau: Ich habe zur Mutti gesagt, dass wir uns erst einmal das Zimmer nur anschauen. Aber sie hat gleich gespürt, dass das das Ende ist. Das war schrecklich für sie, da konnte man sich das Ganze noch so schönreden. Im Heim wäre die einzige Bezugsperson, bei der sie sich wirklich sicher gefühlt hat, also mein Vater, weggefallen. Vielleicht wusste sie nicht mehr, dass ihr Zuhause ihr Zuhause ist, aber bei ihm war sie immer daheim.

Sie sagte im Heim auch "Ja aber da sind doch nur alte, kranke Leute, und da passe ich ja gar nicht dazu". Und das stimmt ja auch, körperlich ist sie topfit. Wie soll man das erklären? Wenn man sagt, das ist jetzt dein neues Zuhause, antwortet sie: "Aber wieso denn, wo ist denn das andere Zuhause?" Das hat sie alles überhaupt nicht kapiert. Und ich selbst habe es ja auch nicht kapiert. Wenn jemand körperlich gebrechlich ist, versteht die Person, dass andere einem helfen. Aber bei Demenz ist das anders. Sie fragt dann: "Warum, mir muss ja niemand helfen." Da hilft keine rationale Erklärung. Irgendwie war es so, als müsste man sein eigenes Kind ins Heim geben. Sie saß da und meinte: "So eine Scheiße, dass ich mal so enden werde, das hätte ich mir nicht gedacht." Sie so zu sehen, das sprengt einem schon das Herz.

STANDARD: Es lag also nicht am Pflegeheim per se?

Strehlau: Nein, die Pflegenden trifft gar keine Schuld, die tun natürlich ihr Bestes. Aber ich glaube, es bleibt Pflegekräften im Alltag einfach kaum Zeit, den Anforderungen, die Leute mit Demenz haben, gerecht zu werden. Das kann Pflege nicht leisten. Ich glaube, dass wir uns gesellschaftlich da etwas einfallen lassen müssen. Wenn man den Statistiken glaubt, dann verdreifacht sich die Anzahl der Demenzkranken weltweit bis zum Jahr 2050. Also das ist ein Thema, mit dem wir uns wirklich auseinandersetzen müssen.

Mit dem autobiografischen Theaterstück "Die Zeit verkehrt herum tragen" über ihre Mutter will Strehlau dem Thema Demenz den Schrecken nehmen.
Bärbel Strehlau

STANDARD: Was haben Sie aus der Zeit, in der Sie Ihre Mutter gepflegt haben, mitgenommen?

Strehlau: Dass man die Dinge ganz anders, viel ruhiger angehen muss. Sei es das Aufstehen, das Spazieren, das Anziehen, das Kochen. Ich habe rasch gemerkt, dass das Tempo, mit dem ich den Alltag bestreite, bei ihr nicht funktioniert. Selbst wenn man normal durch die Wohnung geht, hat sie immer gefragt: "Was rennst du denn jetzt so herum?" Am schönsten war es deshalb für sie immer, wenn ich mich zu ihr auf das Sofa gesetzt habe und auch einfach nichts gemacht habe. Und ich habe gelernt, dass man kreativ sein muss. Also wenn sie dann auf einmal mitten im Raum steht und glaubt, sie ist gerade auf einem Dachboden, dann muss man sich überlegen, wie man da jetzt am besten mit der Situation umgeht. Wir hatten auch viele lustige Momente, in denen wir uns totgelacht haben. Sie hat generell ein sehr sonniges Gemüt, und auch die Ironie hatte sie zu der Zeit noch nicht verloren. Ich musste mich im Grunde also total auf ihr Tempo einstellen und in ihre Welt eintauchen.

STANDARD: Das ist laut Fachleuten auch der einzig richtige Ansatz im Umgang mit der Krankheit. Man sollte Betroffene in ihrer Welt besuchen und nicht versuchen, sie zurückzuholen …

Strehlau: Ja, und genau das hat so viel Theatralität. Es ist wie Improvisationstheater, weil man sich ständig irgendetwas einfallen lassen muss auf die Fragen, die sie stellen. Ich bin beispielsweise einmal mit meiner Mutter abendessen gegangen, und als ich die Wohnungstür von außen absperre, fragt sie mich plötzlich: "Oje, wen haben wir denn da jetzt eingeschlossen?" Solche Momente sind mehr als komisch. Ich habe dann gesagt, vielleicht haben wir uns ja selbst eingeschlossen und es gar nicht mitgekriegt. Und dann haben wir beide schallend gelacht. Ab dem Moment, in dem ich mich auf sie eingelassen habe, hat der Umgang mit ihr mir als Theatermacherin natürlich auch viel Futter geliefert.

STANDARD: Mittlerweile ist daraus das Theaterstück "Die Zeit verkehrt herum tragen" entstanden. Wie kam die Idee dazu?

Strehlau: Das Stück bezieht sich auf eine intensive Zeit, in die man als Familie einfach so reingeworfen wird. Und wenn Familienangehörige erkranken, entstehen häufig auch Konflikte, ich denke, das kennen viele. Ich war auf einmal mit so vielen Gefühlen gleichzeitig konfrontiert, das hat mich im Nachhinein bewogen, das Ganze als Theaterstück zu verarbeiten. Und ich wollte dem Thema Demenz den Schrecken nehmen und zeigen, dass man dabei auch wirklich viel lachen kann.

STANDARD: Wie ist die Situation jetzt?

Strehlau: Die Realität hat das Theaterstück überholt. Mein Vater ist im August sehr plötzlich verstorben, eigentlich ging es ihm zu dieser Zeit recht gut. Einerseits haben wir immer gestaunt, wie er das mit der Mutti aushält. Andererseits waren die beiden auch ihr gegenseitiges Lebenselixier. Durch die Mutti hatte er ja noch einen Sinn beim Älterwerden. Er hat bis zum Schluss für sie gesorgt. Nach seinem Tod hat die Mutti dann sehr rasch einen Platz in einer Demenz-WG bekommen, gleich in der Nähe von unserer Verwandtschaft. Sie ist dort also gut aufgehoben.

STANDARD: Weiß Ihre Mutter, dass sie quasi eine Hauptrolle in Ihrem aktuellen Stück hat?

Strehlau: Nein. Sie hat meine Theaterarbeit immer sehr gemocht, aber ich weiß nicht, ob sie das verstehen würde, wenn ich ihr das erkläre. Bei dem vorigen Stück habe ich auch schon autobiografisch gearbeitet. Meine Eltern waren Figuren, das habe ich ihr damals erzählt, dann meinte sie "Ach, das ist ja schön, dass wir noch mal eine Rolle in deinem Leben spielen dürfen". (lacht) Also ich denke, sie würde es wohlwollend aufnehmen. Und sie wäre stolz, glaube ich. (Magdalena Pötsch, 8.12.2023)