Pinguine spazieren nahe des Wassers
Paul Nicklen möchte "die Geschichten der Wildnis mit der Kamera erzählen" – und damit nicht zuletzt fragile Ökosysteme sichtbar machen.
Paul Nicklen

Die zum Svalbard-Archipel gehörende arktische Insel Nordaustlandet ist weitgehend von Eis bedeckt. Wo die Gletscher im Meer enden, finden sich gigantische Abbruchkanten – turmhohe Eiswände, die auf eine archaische Natur verweisen. Doch die eindrucksvollen Formationen schwinden dahin. Im Sommer setzt die Schmelze enorme Wassermengen frei, die sich ihren Weg durchs Eis bahnen. 2014 hat der Naturfotograf Paul Nicklen hier ein Bild aufgenommen, das Bände spricht: Es zeigt, wie sich aus den Eiswänden 18 Wasserfälle ins Meer ergießen. Man ist an einen löchrigen Staudamm erinnert, aus dem allerorts das Wasser sprudelt.

Das Bild Ice Waterfall traf einen Nerv. "Es ist mein bestverkaufter Kunstdruck. Die Menschen finden es schön und hängen es gerne an ihre Wände. Gleichzeitig erzählt es aber auch eine Geschichte, die mit Wissenschaft und Umweltschutz zu tun hat", sagt Nicklen. "Das Bild erzählt von einem Ökosystem, das uns abhandenkommt. Die Arktis erwärmt sich schneller als jeder andere Ort auf der Erde. Das Bild zieht die Menschen in die Debatte rund um die Erderwärmung hinein, verärgert sie dabei aber nicht."

Dieser Anspruch steht hinter allen von Nicklens Arbeiten. Er möchte als Fotograf, Filmemacher und "visual storyteller" auf die fragilen Ökosysteme der Erde aufmerksam machen. Die Bilder sollen eine emotionale Verbindung mit extremer Natur und Wildtieren herstellen. Betrachtende sollen in einen Diskurs verwickelt werden, in dem Naturwissenschaften und Umweltschutz starke Stimmen sind. Sein Ansatz hat den Kanadier, der unter anderem für National Geographic arbeitet, zu einem der erfolgreichsten Naturfotografen der Gegenwart gemacht. Wiederholt wurde er im Zuge des World Press Photo Award ausgezeichnet und zum Wildlife Photographer of the Year gekürt.

Eine Ringelrobbe blickt unter Wasser durch eine glasklare Eisdecke darüber
Nicklen studierte Meeresbiologie und fotografierte bereits während des Studiums.
Paul Nicklen

Sein Talent speist sich unter anderem aus den Erfahrungen seiner Kindheit. Nicklen wuchs selbst in der Arktis auf – in jener Welt, in der er später auch seine Fotomotive suchen sollte. Mit seiner Familie lebte er auf Baffin Island im kanadischen Nunavut-Territorium nördlich des Polarkreises. In der Siedlung wohnten knapp 200 Menschen, der Großteil Inuit. "Wir hatten kein Telefon, kein Smartphone, keinen Computer. Es gab keinen Grund, im Haus zu bleiben. Das Leben spielte sich draußen ab", erinnert sich Nicklen. "Auch wenn es minus 40 Grad Celsius hatte, spielten wir draußen. Hier lernte ich, wie man in der Wildnis überlebt und hart im Nehmen zu sein."

Doch diese Welt prägte ihn noch auf eine weitere Art. Er tauchte in die Sagenwelt der lokalen Kultur ein. "Die Inuit sind sehr kreativ. Geschichten wurden nicht nur mündlich, sondern auch in Steinzeichnungen und -drucken weitergegeben", sagt Nicklen. "Mein Kopf war voll von Erzählungen über Polarlichter, die unvorsichtigen Menschen den Kopf abhacken, und Seemonstern, die unter Eisschollen lauern. Viele der Schauergeschichten waren dazu da, Kinder von Gefahren fernzuhalten. Aber sie haben mir auch eine kreative Seite mitgegeben, die ich bei meiner Arbeit nutzen kann."

Meeresbiologe mit Kamera

Obwohl seine Mutter Fotografin war, besaß er selbst erst mit 21 eine Kamera. Er studierte Meeresbiologie, und seine Tierbilder von arktischen Tauchgängen begeisterten die Kollegen. Gleichzeitig frustrierte ihn die Forschungsarbeit. "Man beobachtete einen Moment voller Schönheit, in dem eine Eisbärenmutter mit ihren Jungen vorbeizog. Und alles, was man damit machte, war, ein Kästchen in einem Formular abzuhaken", veranschaulicht Nicklen. "Mir wurde klar, dass ich einen besseren Beitrag leisten könnte, wenn ich die Geschichten der Wildnis mit der Kamera erzähle."

Im Alter von 26 machte er sich allein in die kanadische Tundra auf. Er blieb drei Monate unter Wölfen, Bären und Moschusochsen. Für ihn war es einfach, in der Wildnis zu sein und allein von der Jagd zu leben. Geld war dafür nicht notwendig. Nach dieser ersten Expedition wusste er, dass Fotografie sein Werkzeug sein sollte, um eine Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu schlagen.

Ein Pinguinjunges in im Rossmeer im Südlichen Ozean vor Antarktika
Mit Partnern hat Fotograf Nicklen die SeaLegacy gegründet. Derzeit unterstützt die NGO eine Initiative zur Errichtung von Meeresschutzgebieten.
Paul Nicklen

Mittlerweile richtet sich Nicklen auch direkt an eine globale Öffentlichkeit. Inspiriert von der Reichweite, die unter anderem seine Bilder von hungernden Eisbären erzielt hatten, gründete er 2014 mit Partnern die NGO SeaLegacy. Das Ziel ist, Strategien und Inhalte für Umweltschutzprojekte zu entwickeln und eine globale Bewegung mitzuformen. Zurzeit unterstützt SeaLegacy etwa eine Initiative zur Errichtung von Meeresschutzgebieten in der Antarktis, bei der bereits Millionen Unterschriften gesammelt und führenden Politikern überreicht wurden.

Doch Nicklen selbst ist am liebsten draußen. "Es ist lustig: Im Büro bringe ich kaum genug Ruhe und Konzentration auf, um eine E-Mail zu schreiben. In der Natur kann ich aber wochenlang still sitzen und auf den perfekten Moment für ein Foto warten", sagt er. "Einmal habe ich mit meiner Frau Cristina einen Monat lang ausgeharrt, um Wölfe fotografieren zu können. Irgendwann haben uns die Tiere so weit vertraut, dass sie sogar ihre Welpen bei uns absetzten. Wir sollten wohl auf sie aufpassen, während sie jagen gingen. Wenn man genug Zeit investiert, bekommt man einzigartige Geschenke von der Natur."

Gefährliche Situationen

Nicklen hat viele Geschichten dieser Art auf Lager. Viele klingen gefährlich. Sie handeln von Flugzeugabstürzen in kalten Seen oder vom Beinahe-Ertrinken auf Tauchgängen. Die Wildtiere selbst werden dagegen selten zur Gefahr. "Ich habe tausende Bären gesehen. Keiner hat mich verletzt, ich musste auch keinen töten", betont der Fotograf. Für ihn ist es nicht die Natur, die furchteinflößend ist. "Am meisten Angst hatte ich bisher in zwei Situationen: einmal, als ich einen schweren Autounfall hatte, und einmal, als ich in einer New Yorker U-Bahn-Station zusammengeschlagen wurde", sagt Nicklen.

In der extremen Natur überwiegen für ihn die schönen Momente. In Norwegen tauchte er inmitten eines riesigen Fischschwarms. "Millionen von Heringen füllten den Ozean um mich aus, wie eine stadtteilgroße Wand aus Biomasse; dazwischen Orcas und riesige Buckelwale, die zur Nahrungsaufnahme durch den Schwarm pflügten", beschreibt Nicklen. In der Antarktis war er mit hunderten Seeleoparden, einer Robbenart, im Wasser. "Plötzlich kam ein riesiges Weibchen und begann, mir Pinguine – tote und lebendige – anzubieten, um mich zu ernähren. Dass sich dieses große Raubtier um mich kümmern wollte, war unglaublich rührend."