Wer angegriffen wird, muss sich verteidigen. Wer auf solch brutale Weise attackiert wird wie Israel am 7. Oktober, muss in einer Weise reagieren dürfen, die dieser Brutalität angemessen ist und sicherstellt, dass ein ähnlicher Angriff so bald nicht mehr passieren kann. Das ist das logische Fundament, auf dem Israels Bodenoffensive im Gazastreifen beruht.

Dieses Fundament ist moralisch wasserdicht. Krieg ist aber ein komplexes Konstrukt, und das beste Fundament ist wenig wert, wenn der weitere Bauplan Mängel hat – Mängel, die von den blinden Flecken der Planer herrühren.

Eine zentrale Annahme Israels besteht darin, dass die Hamas vernichtet werden kann. Diese Annahme muss hinterfragt werden. Der Armee ist es laut eigenen Angaben gelungen, rund fünftausend Hamas-Kämpfer zu töten. Bei einer Summe von 25.000 Kämpfern wäre das ein Fünftel. Angesichts der hohen Zahl an zivilen Opfern ist das eine ernüchternde Bilanz.

Gazastreifen
Israels Armee kämpft im Norden und im Süden des Gazastreifens gegen die Hamas.
AFP/MENAHEM KAHANA

Angenommen, es reicht aus, eine kritische Masse an Kämpfern zu beseitigen: Dann stellt sich immer noch die Frage, ob das auch bedeutet, die Hamas als politischen Faktor auszuschalten. Alle Experten und Expertinnen, die mit dieser Frage konfrontiert werden, halten das für höchst unrealistisch.

Damit eng verbunden ist die Frage, welches Szenario der israelischen Führung für den Tag danach vorschwebt. Muss man die Hamas als politischen Faktor mitbedenken? Über dieses für Israels Sicherheit so zentrale Thema spricht man nicht, man schaut lieber weg. Dem wiederholten Drängen Washingtons, sich mit den ungelösten Fragen zu beschäftigen, weicht man aus.

Eine weitere Annahme Israels: Die sich ausweitende humanitäre Krise in Gaza wird dazu führen, dass die Hamas von den Zivilisten im Gazastreifen unter Druck gesetzt wird. Diese Annahme verkennt, dass sich die Hamas herzlich wenig darum kümmert, wie es den Zivilisten geht. Die lokale Führung mag zwar unter Druck kommen, aber den gutsituierten Fernkommandanten in Katar, Beirut und der Türkei ist das egal. Nicht egal ist es den Menschen in Gaza, die ihre Angehörigen und ihre Wohnungen verloren haben und jeden Tag fürchten müssen, inmitten des Bombenhagels und der sich ausbreitenden Infektionskrankheiten auch ihr Leben zu verlieren. Je weiter sich die humanitäre Krise im Gazastreifen zuspitzt, desto mehr Druck wird Israel auch aus dem Ausland zu spüren bekommen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärt derweil, es handle sich um einen Kampf der Zivilisation gegen das Barbarentum. Das internationale humanitäre Recht kennt solche Begriffe nicht. Es prüft nur, ob Israel differenziert und verhältnismäßig vorgeht. Das ist auch US-Präsident Joe Biden bewusst.

Um all die ungeklärten Fragen in diesem Krieg ehrlich anzugehen, braucht es Mut zum Pragmatismus – eine Qualität, die man in Israels aktueller Regierung lange suchen muss. Die rechtsreligiösen Kräfte reagieren nur auf Druck.

Dieser Druck könnte nun ausgerechnet von jenen kommen, die am meisten unter den Hamas-Gräueln gelitten haben: den Familien der Geiseln. Sie sind in diesen Tagen die lauteste Stimme in Israel, die der Regierung ihre Zweifel an den Annahmen dieses Kriegs entgegenwirft. Sie werden so bald nicht verstummen. (Maria Sterkl, 12.12.2023)