Justizwachebeamter
In der Justizwache braucht es die Balance zwischen Verständnis und Strenge.
Heribert Corn

Punkt sieben Uhr, Standeskontrolle: Gab es nächtliche Raufereien? Musste jemand ins Krankenhaus? Christian Doppler bespricht die Lage zu Dienstbeginn mit dem Kollegen vom Nachtdienst. Dann geht es von Haftraum zu Haftraum in der Untersuchungshaft Justizanstalt Wiener Neustadt. Doppler schaut, ob es allen gut geht, bevor sie frühstücken können. "Mit den meisten Häftlingen wird es nicht bedrohlich", sagt er, "andere wiederum sind brandgefährlich, diese kontrolliert man nur zu zweit mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen." Der Trakt befindet sich im untersten Teil des verwinkelten, vielfach verschlossenen Gebäudes.

Kaum jemand arbeitet so nah mit verurteilten oder mutmaßlichen Straftätern zusammen wie Justizwachebeamte. Sie sind beim täglichen Gang ins Freie dabei, kontrollieren ihre Hafträume, führen sie zum Gericht oder ins Krankenhaus, schlichten Streit, wehren Gefahren ab, schützen die Inhaftierten auch mal vor sich selbst. Dem STANDARD erzählen einige vor Ort über plötzliche Faustschläge, gelegte Brände im Haftraum, Drohungen oder Verletzungen durch Insassen.

Eine Genehmigung des Bundesjustizministeriums ermöglicht einen Einblick in den Alltag der Wachebeamtinnen und -beamten, allerdings nur in Begleitung von Anstaltsleiterin Stefanie Schmölzer und Traktkommandanten Thomas Lipp. Es gibt strikte Vorschriften und einen getakteten Zeitplan. Fotos von Kameras und anderen Sicherheitstechnologien sind strengstens verboten. Wer reinkommt, gibt erst einmal den Ausweis ab, geht durch einen Metalldetektor und nimmt im breiten, kahlen Wartebereich vor dem Besucherzimmer Platz.

Viele Überstunden

Erst kürzlich wurden Neuigkeiten über drei kurz nacheinander entflohene Häftlinge in Niederösterreich öffentlich – was Fragen nach dem Personalmangel aufwarf. Dieser verschärft sich seit Jahren, weil die Anforderungen höher werden und die Babyboomer in Pension gehen. 266 unbesetzte Stellen gibt es aktuell in den Justizanstalten: 159 davon im Exekutivdienst, 107 in der Verwaltung. Bis zum 1. Oktober dieses Jahres leisteten die Bediensteten 113.369 Überstunden.

Trotzdem herrscht im Wachzimmer um kurz nach acht Uhr reger Betrieb. Beamtin Jutta Nittmann muss gleich zu einer Verhandlung, hat aber noch Zeit für ein kurzes Gespräch. Wen sie zum Landesgericht nebenan führt, erfährt sie erst kurz davor. Bei als aggressiv geltenden oder kampfsporterfahrenen Insassen gehen zwei Leute von der Wache mit. "Wir müssen dabei auch viel mit den Insassen kommunizieren", sagt Nittmann, "wir sind ja auch zu ihrem Schutz da."

Justizwachebeamtin in Österreich
Jutta Nittmann begleitet Insassinnen und Insassen zum Gericht.
Heribert Corn

Denn ein Termin vor Gericht ist unvorhersehbar: Ist die Familie da? Oder ein Opfer? Körperkontakt mit anderen ist untersagt, die Insassinnen oder der Insasse darf nur mit der Rechtsvertretung sprechen. "Es ist ähnlich wie bei der Kindererziehung", sagt Nittmann. Man verweise strikt auf Verhaltensweisen, die nicht akzeptabel sind. Aber wer hier arbeite, dürfe die Personen nicht verurteilen. "Das macht das Gericht", sagt sie. Aus ihrem gläsernen Schließfach im Wachraum nimmt sie einen Taser und Pfefferspray. Nun muss sie los.

Fehlendes Personal

Ein Wachzimmerkommandant fehlt der Justizanstalt seit Monaten, Hans-Jürgen Nagl ist der Stellvertreter. Auch er ist bereits im Dienst, steht mit einer großen Tasse Kaffee vor den Bildschirmen der Sicherheitskameras. Seit 2006 ist Nagl in der Justizanstalt tätig, er verantwortet nun unter anderem die Diensteinteilungen und wer welche Besuche mit welchen Häftlingen macht. Meistens gleicht das einem Balanceakt: Es gibt immer mehr Krankenhausbesuche und zu wenig Personal. Viele Frauen seien in den letzten Jahren neu eingestellt worden, sie dürfen aber meist keine Männer zu Ärzten begleiten. Wenn sich diese wo entblößen müssen, dürfen nur männliche Beamte dabei sein.

Die Arbeitsbedingungen erinnern an ein Krankenhaus: 24-Stunden-Dienste, Arbeit an Feiertagen und Wochenenden, viele Überstunden. "Die Betreuung der Insassen nimmt stetig zu", sagt Nagl. Heute bringen Beamte Häftlinge zu Deutsch- und Englischkursen, führen zu Antiaggressionsgruppen oder begleiten sie zu Bastelstunden. Es gibt viel mehr Programm, die Resozialisierung fordert mehr Zeit von der Wache.

Justizwachebeamter in Österreich
Hans-Jürgen Nagl ist seit 25 Jahren in der Justizwache tätig.
Heribert Corn

Und vor Fluchtversuchen ist auch Wiener Neustadt nicht gefeit. Erst kürzlich, erzählt Nagl, wollte ein Insasse im Krankenhaus aus einem Fenster klettern, die beiden Beamtinnen konnten ihn aber noch schnappen und zurückhalten. "Man kann nicht die ganze Zeit nur auf Spannung sein und denken, eine Person haut jede Sekunde ab", sagt Nagl. "Sonst wird es einem zu viel." Er erinnert sich auch an einen Vorfall 2016: Ein Insasse steckte eine Matratze mit einem Feuerzeug in Brand. Solche Vorfälle sind selten, aber sie kommen vor.

Alle gleichbehandeln

Vom Wachzimmer aus führt der Weg durch enge Stiegenhäuser und über den Innenhof zu den Gefängnistrakten. Entspannt setzt sich der bullige Justizwachebeamte Christian Doppler in die Teeküche und spricht über seinen Job. Links und rechts nebenan die Hafträume mit jeweils zwei Insassen. Hier kommen mutmaßliche Gewalttäter, Sexualstraftäter, Mörder, Diebe oder Betrüger unter. Sogenannte Hausarbeiter unterhalten sich am Flur. Sie wurden als "vertrauenswürdig" eingestuft und können für einen Lohn die Gänge und Stiegenhäuser reinigen oder Fenster putzen.

Doppler war zuvor gelernter Zimmermann. "Das ist genauso gefährlich", sagt er. Der Job sei zudem schlechter bezahlt gewesen und körperlich zu anstrengend. Außerdem wollte er mehr mit Menschen machen. Nun sei ihm wichtig, jeden gleichzubehandeln: "Mir persönlich ist egal, ob jemand ein Parfum im Bipa gestohlen oder ein Gewaltdelikt verübt hat."

Einige Fälle gehen ihm jedoch nahe. Er erinnert sich an eine besonders harte Situation: das Auffinden einer leblosen Insassin. Andere Situationen wiederum sind gefährlich für ihn. Ein durch Drogen beeinträchtigter Mann hatte zu raufen begonnen, dabei stieß er den Beamten zu Boden und brach ihm die Hand. Gerade in der Untersuchungshaft dürfe es jedoch nicht an Empathie fehlen, betont er. Auf jede Person, die neu dazukommt, müsse man individuell eingehen. Der eine weiß nicht, ob seine Familie von der Inhaftierung weiß, ein anderer macht sich Sorgen um zurückgelassene Haustiere, dann gibt es Menschen, die nicht einmal Schuhe tragen.

Justizwachebeamter in Österreich
Seine Statur verschaffe ihm schon Respekt, sagt Justizwachebeamter Christian Doppler.
Heribert Corn

Und der Personalmangel? Der zeige sich seiner Einschätzung nach auch durch strengere Auflagen. Früher habe man Dinge einfach mit den Insassen besprochen. Heute müsse alles verschriftlicht, im Computer vermerkt und im Akt abgelegt werden. "Die Bürokratie ist viel mehr geworden, die Leute aber weniger." Oft müssten Kolleginnen oder Kollegen in Abteilungen aushelfen, für die sie nicht zuständig sind, oder würden nur zu zweit arbeiten, wo drei Personen gebraucht werden.

Den Wind aus den Segeln nehmen

Einen Gang weiter folgt die letzte Abteilung, der Strafvollzug. Hier ist es still, die Psychologin ist zu Besuch. In einem dunklen kleinen Raum trainiert ein Mann gerade mit Hanteln. Wachebeamtin Sonja Simic-Giefing empfängt und führt daran vorbei. Sie ist allein, da der Abteilungskommandant im Urlaub und der Stellvertreter auch nicht da ist. Durch eine Bekannte kam sie vor rund sechs Jahren in den Beruf.

Justizwachebeamtin in Österreich
Sonja Simic-Giefing rutschte vor sechs Jahren durch eine Bekannte in den Job, weil sie arbeitssuchend war.
Heribert Corn

Hier habe sie die Möglichkeit, die Menschen einzuschätzen zu lernen. "Wenn ich schon merke, irgendwer verhält sich komisch, suche ich das Gespräch und versuche, den Wind aus den Segeln zu nehmen." Wenn sie lauter werde, habe das seinen Grund: "Wenn Insassen mir drohen – und das kommt immer wieder vor." Stichprobenartig geht sie jede Stunde durch und kontrolliert die Räume.

Manchmal verwendet sie auch einen "Handyfinder" und nimmt den Insassen heimlich eingeschmuggelte Mobiltelefone ab. Es ist noch nicht lange her, da hatten junge Insassen in Wiener Neustadt mit illegalen Handys gefilmt, wie sie vermutlich Alkohol trinken und eine Party feiern – auch das müssen die Beamtinnen und Beamten unterbinden. (Melanie Raidl, 19.12.2023)

Video: Wie Basketball bei der Resozialisierung in Haftanstalten helfen soll.
DER STANDARD