Die Euphorie war groß, als nach einem Verhandlungsmarathon im europäischen Trilog zwischen Rat, Kommission und Parlament am 9. Dezember eine Einigung über die KI-Verordnung erzielt war. Die Superlative der Verantwortlichen, welche den Moment untermalen sollten, ließen dann auch nicht lange auf sich warten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, die KI-Verordnung (KI-VO) sei "der weltweit erste umfassende Rechtsrahmen für künstliche Intelligenz". Verhandlungsführer Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, nannte den 9. Dezember "historisch" und die EU den ersten Kontinent, der "klare Regeln für den Einsatz von KI aufstellt".

Das ist schlichtweg falsch. Mit den Gesetzen über "digitale Dienste" (GdD) und "digitale Märkte" (GDM) und mit vielen weiteren europäischen Regularien gibt es auf europäischer Ebene schon Gesetze, die die Benutzung von KI, insbesondere auf digitalen Plattformen, miteinschließen. Auch hat die EU sicherlich nicht weltweit den ersten Rechtsrahmen beschlossen. In China trat schon am 13. Juli dieses Jahres ein nationaler KI-Gesetzesrahmen in Kraft. Zudem sei auch angemerkt: Die jetzigen EU-Regeln der KI-VO sind alles andere als "klar" – sie sind noch nicht einmal final ausgehandelt. Das Einzige, was am 9. Dezember veröffentlicht wurde, war eine Pressemitteilung, welche umreißt, was die Grundpfeiler der KI-VO umfassen soll. Diese tritt frühestens 2026 in Kraft. In den nächsten Schritten werden die Details auf "fachlicher Ebene", hier seien die 389 Seiten Änderungsvorschläge erwähnt, welche das EU-Parlament im Juni dieses Jahres vorgelegt hat, festgezurrt.

KI Europa Gesetze
Die Risken der künstlichen Intelligenz sind groß. Die Europäische Union hat einen Rechtsrahmen verabschiedet. Reicht dieser, oder braucht es nicht viel mehr?
Foto: AP/Michael Dwyer

So weit die Fakten. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Einfluss von Bigtech-Unternehmen auf den KI-Gesetzgebungsprozesse beispiellos sind. Berichte des Corporate Europe Observatory und von Transparency International zeigen, wie Bigtech aktiv daran arbeitet, die KI-Regulierung in Brüssel zu blockieren und zu verwässern. Der Report aus dem Jahr 2021 besagt, dass "jährlich über 97 Millionen Euro für Lobbyarbeit bei den EU-Institutionen ausgegeben (werden), noch vor Pharma, fossilen Brennstoffen, Finanzen oder Chemie". Dies geht Hand in Hand mit dem Zugang zu den höchsten europäischen Etagen. Die Lobbyisten der Industrie hatten bei weitem die meisten Treffen mit der EU-Kommission für Agenda-Setting im Rahmen der Verhandlungen über den GdD und GDM (192 von 271 Treffen). Sowieso scheinen Interessen zwischen Politik und Bigtech fließend. Das Corporate European Observatory berichtete dieses Jahr, dass "drei Viertel (!) aller EU-Lobbyisten von Google und Meta früher für eine Regierungsstelle auf EU- oder Mitgliedsstaatenebene gearbeitet haben". Selbst die Bänker der Wall Street werden bei solchen Zahlen neidisch. Obengenannter Thierry Breton, ein ehemaliger Spitzenmanager der Kommunikationsindustrie, verhandelt heute für die Europäische Kommission.

Das Denkbare verschieben

Was macht es mit der Politik, wenn sie von Wirtschaftsinteressen kaum noch zu unterscheiden ist? Sie verschiebt das Denkbare, den Diskurs über unsere Auffassung, was verhältnismäßig ist. Möchte jemand ein Gewerbe anmelden oder einen Essensstand eröffnen, müssen Richtlinien und Gesetze eingehalten werden – von Arbeitsbedingungen, Brandschutz, Hygiene. Mit gutem Grund. Bei Bigtech ist das anders. OpenAIs ChatGPT wurde mit den absurdesten Versprechen Anfang dieses Jahres einfach auf den Markt geworfen, man benutzte die Öffentlichkeit als Versuchslabor. ChatGPT ist ein Sprachmodell, kein Wissensmodell – es produziert allein synthetische Inhalte, indem es Muster in Sprache erkennt und Text regelbasiert zusammenwürfelt. Die Ergebnisse lesen sich flüssig, plausibel und gaukeln Wissen vor – können aber faktisch alle falsch sein. Sie werden aber von den Anbietern vermarktet als Zugang zu Information. Auf Kaufplattformen sind Pilzbücher, welche ausschließlich KI-generiert sind, zu kaufen, voll mit halluziniertem Wissen, mit dem sich Menschen vergiften können.

Unser Internet wird gerade geflutet mit Mengen von synthetischem Text- und Bildmaterial, das von Suchmaschinen wie Google aufgenommen und als Wissen indexiert wird. Und das ist Gift für unsere Demokratie. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, vertrauenswürdige Informationen zu identifizieren, verlieren wir auch das Vertrauen in die vertrauenswürdigen Informationen, wenn wir sie finden. Das ist eine Krise des Wissens und der Wahrheit. Und ohne Wissen und Wahrheit gibt es keine Demokratie. So reicht ein Blick in die USA und nach China, die gerne von der EU-Politik als Damoklesschwert-Konkurrenz angeführt werden, um zu erfahren, zu welchen antidemokratischen Exzessen das führt.

Systemische Risiken

Bezeichnenderweise sind es vor allem die wirtschaftsstarken Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens, welche am lautesten für eine Deregulierung von Basismodellen, die ChatGPT, Bard und DALL-E antreiben, trommeln. Der 9. Dezember war kaum ins Land gegangen, da monierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, ein ehemaliger Investmentbanker, die innovationshemmende Überregulierung von Basismodellen im jetzigen Entwurf der KI-VO und forderte Nachbesserungen. Dabei geht es darin allein um grundlegende Transparenz-, Sicherheits- und Antidiskriminierungsvorkehrungen von Basismodellen.

Da haben wir sie, die Diskursverschiebung. Die Weitsicht für die systemischen Risiken einer demokratischen Gesellschaft. Sie entziehen sich gerade dem Denk- und Sagbaren bei zu vielen politischen Verantwortlichen. Oft wird das Bild des hinterherlaufenden Staates bei Tech-Innovation mobilisiert, wo Regulierung verspätet mit juristischen Mitteln die Risiken und Schäden von Technologie einhegen muss. Das ist bei Bigtech abwegig. Europäische Regierungen haben diesen KI-Moment durch Innovationspolitik gebaut. Deren Narrative sind von jenen der Privatwirtschaft kaum noch zu unterscheiden. (Jascha Bareis, 27.12.2023)