Daria Jewdokienko (ganz links) lebt derzeit mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter im Flüchtlingslager in Kiew.
Olga Ivashchenko

Seit dem langen Fußmarsch vom russischen Grenzort Kolotilowka in den ukrainischen Oblast Sumy im Nordosten des Landes sind erst wenige Stunden vergangen. Der 17-jährigen Daria Jewdokienko steht die Müdigkeit noch immer ins Gesicht geschrieben. "Es gab keine asphaltierte Straße, nur Steine", erzählt sie. Links und rechts habe sie im Licht ihres Smartphones die Umrisse zurückgelassener und verlorener Gegenstände erkannt, Kleidungsstücke, Koffer, Taschen. "Wie auf einer Müllhalde."

"Wir rannten, weinten, gingen weiter, schleppten, weinten, bis wir gar nichts mehr gespürt haben." Abwechselnd habe sie den Rollstuhl der Großmutter und die Koffer weitergezogen, während ihre Mutter die schweren Reisetaschen hievte, erzählt Jewdokienko. "Über uns flogen die Drohnen, und wir hörten Schüsse." Fünf Stunden hat die dreiköpfige Familie für die zwei Kilometer lange Strecke benötigt. "Irgendwann haben wir die ukrainischen Worte unserer Soldaten gehört."

Der einzige Landweg

Am Tag nach ihrer Ankunft steht die junge Frau im hell beleuchteten Wartesaal der Notunterkunft in der Regionalhauptstadt Sumy. Etwas abseits, neben der gläsernen Eingangstür, berät ihre Mutter mit einem Pfleger über die vielen Papiere, die sie für den Krankentransport nach Kiew ausfüllen muss. Die Großmutter, die an Diabetes leidet und vor dem Krieg einen Schlaganfall erlitten hat, sitzt still in einer Ecke. "Ich merke, dass sie langsam wieder ruhig atmet", sagt Jewdokienko über ihre Oma. "Aber ganz hat sie noch nicht verstanden, dass sie endlich in Sicherheit ist."

Jewdokienko wirkt blass, aber gefasst für jemanden, der gerade erst seinen Heimatort im russisch besetzten Oblast Luhansk zurückgelassen und den einzigen Landweg zwischen Russland und der Ukraine zurückgelegt hat. Obwohl die Strecke als humanitärer Korridor gilt, finden dort noch Kampfhandlungen statt.

In der Ortschaft Krasnopillja, etwa eine Autostunde von der Stadt Sumy entfernt, kommen die Flüchtenden an. Dutzende sind es an diesem Nachmittag im November, die meisten davon Frauen. Während im Hintergrund wieder einmal eine Sirene aufheult, klettern sie aus dem Bus, der am ukrainischen Kontrollposten an der rund zehn Kilometer Luftlinie entfernten Grenze bereitstand. Ein Mann in Camouflage weist ihnen den Weg vom Parkplatz zu einem zweistöckigen Gebäude.

Unsicheres Schweigen

An den Wänden im Eingangsbereich hängen Informationsblätter über Transportmöglichkeiten nach Sumy, von dort weiter nach Kiew, Odessa und Charkiw. Unter den Ankommenden macht sich unsicheres Schweigen breit. Dann erklärt ein Soldat mit lauter Stimme das Prozedere: "Hier werden Ihre Daten registriert. Im Raum links werden die Taschen kontrolliert. Bitte halten Sie ihre Dokumente und die Mobiltelefone bereit. Die alten SIM-Karten werden entfernt."

Mehr als 16.000 ukrainische Zivilisten sollen in den vergangenen Monaten die Grenze zu Fuß überquert haben – und das, obwohl die ukrainische Regierung nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 angekündigt hat, alle ehemaligen Grenzposten zum Nachbarland zu schließen. Seit Monaten scheint zwischen den kriegsführenden Ländern ein stilles Abkommen über einen humanitären Korridor zu herrschen. Warum die Russen die Zivilisten passieren lassen, ist unklar.

In ihrem Büro im ersten Stock des Erstaufnahmezentrums von Krasnopillja zieht Katerina Arisoy einen Blechkübel unter dem Tisch hervor und zeigt abschätzig auf den Inhalt: Rubel-Münzen und -Scheine, die die Geflüchteten abgegeben haben. "Ich will das Geld selbst nicht anfassen. Ich glaube, dass es Unglück bringt", sagt die 36-Jährige und schiebt den Kübel mit dem Fuß zurück unter den Tisch. In den ersten Monaten des Jahres seien hier vor allem Menschen aus dem besetzten Donbas oder von der Krim angekommen, sagt Arisoy. Doch seit einem halben Jahr kämen immer mehr aus den Regionen Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine. "Auch dort sind die Menschen mittlerweile gezwungen, russische Pässe anzunehmen." Und dann gibt es noch jene, die von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms betroffen waren und in der Flut alles verloren haben.

Am Stadtrand von Kiew

Schauplatzwechsel. Ende November am Stadtrand von Kiew. Daria Jewdokienko zeigt die Flüchtlingseinrichtung, in der sie mit ihrer Familie untergekommen ist. Die drei Frauen teilen sich ein Schlafzimmer. In der Ecke stehen zwei große Koffer, vier Reisetaschen, einige Plastiktüten. Das ist alles, was der Familie geblieben ist.

Die drei haben ihr ganzes bisheriges Leben im Dorf Kowaliwka im Oblast Luhansk verbracht. Unweit von dort brachen schon 2014 Kämpfe aus. "Damals hat uns der Krieg aber nicht erreicht", erinnert sich Olena Jewdokienko. Am 24. Februar 2022 hingegen sei sie gegen fünf Uhr morgens von Explosionen geweckt worden. "Ich bin sofort online gegangen und habe gesehen, dass der Krieg angefangen hat." Noch weniger als den Beginn der Invasion habe sie aber die Reaktionen ihrer Nachbarn glauben können.

Russische Besatzung

Im Nachhinein fühle es sich an, als habe sie die anderen in Kowaliwka nie richtig gekannt. Die ersten russischen Truppen hätten die Ortschaft bereits Anfang März – wenige Tage nach Kriegsbeginn – erreicht. "Ich würde sagen, dass sich 99 Prozent in unserem Dorf darüber gefreut haben", erzählt Jewdokienko. Unabhängig belegen lassen sich die Schilderungen nicht. Bis auf einige wenige Aufnahmen mussten die drei aus Sicherheitsgründen alle Fotos und Nachrichten auf ihren Handys löschen, die an den russischen Checkpoints zu noch mehr Fragen hätten führen können.

Die Zeit unter der russischen Besatzung beschreiben die drei Frauen als eine ohne Recht, Ordnung oder Gesetze. "Alles hängt von der Willkür der Soldaten ab", sagt Daria. Nach und nach begannen die von den Besatzern kontrollierten Behörden den Bewohnern neue Reisepässe auszustellen. "Die meisten haben ihre ukrainischen Pässe freiwillig eingetauscht", sagt Mutter Olena. Hoffnung gab ihr in der schwierigen Zeit das Radio, über das die drei heimlich den ukrainischen öffentlich-rechtlichen Radiosender Suspilne empfingen. Und die Zettel mit den proukrainischen Botschaften – "Slawa Ukrajini" oder "Nein zum Krieg" –, die sie hin und wieder auf dem Gehweg fand, auf den Boden hingeworfen wie Müll. "Für mich hat das alles bedeutet, mir die Kraft gegeben, weiterzumachen", so Jewdokienko.

Krankentransport
Die kranke Großmutter wurde mit dem Rettungswagen gebracht.
Olga Ivashchenko

Ausweg Flucht

In den vergangenen Monaten tauchten an Straßenlaternen von Kowaliwka weitere Zettel auf: Flyer mit Infos zu Transportmöglichkeiten. Sie habe eine der Nummern angerufen, berichtet Olena Jewdokienko. Der Mann am anderen Ende der Leitung erklärte, er könne sie und ihre Familie abholen und bis nach Kolotilowka fahren, von wo aus sie zu Fuß über den humanitären Korridor zurück in die Ukraine könnten. Eine Woche später hielt der Fahrer vor ihrem Haus, er nahm umgerechnet 160 Euro pro Kopf.

Im Zuge der Gegenoffensive hat die ukrainische Armee im September 2022 diverse Orte in der angrenzenden Region Charkiw zurückerobert. "Auch wir haben bis zuletzt darauf gewartet, dass unsere Armee uns befreit", sagt Tochter Daria Jewdokienko. Doch die Befreiung kam nicht.

Zaghafte Zukunftspläne

Im Flüchtlingsheim in Kiew erzählen Daria und Olena Jewdokienko über ihre Pläne. Daria will endlich ihr Informatikstudium beginnen, die Mutter einen Job suchen. "Sie haben sich noch nicht erholt", sagt Julia Sidorenko, die Leiterin des Flüchtlingsheims, das von der Organisation Save Ukraine betrieben wird. "Sie sind verzweifelt, weil sie nicht wissen, was als Nächstes passieren wird." Jede Familie, die zu ihr kommt, erhalte einen individuellen Plan für die Zeit, die sie in der Unterkunft verbringt. Aber über die Zukunft zu sprechen, dafür sei es zu früh. (Daniela Prugger aus Krasnopillja, Sumy und Kiew, 25.12.2023)