Immer wieder stößt man in Diskussionen auf Unglauben, wenn man von den imperialistischen Zielen Russlands unter Wladimir Putin spricht. Ja, sicher, die Ukraine werde er wohl haben wollen, aber das stehe ihm ja irgendwie zu, meinen nicht wenige Gesprächspartner. Aber niemals werde Putin oder überhaupt Russland über die Grenzen der alten Sowjetunion hinausgreifen und Europa ernsthaft bedrohen.

Putin wird nicht in die EU einmarschieren – er wird versuchen, die EU zu spalten und wirtschaftlich zu erpressen.
via REUTERS/SPUTNIK

Abgesehen davon, dass damit gleich einmal die drei baltischen Länder gedanklich wieder Russland zugeschlagen werden (und Georgien und …) – das ist eine grundsätzliche Verkennung von Putins Imperialismus, der auch ein russischer Imperialismus ist.

Langfristiger Plan

Putin denkt in Einflusssphären, er glaubt, dass die Zeit des "dekadenten" Westens vorbei ist und die Welt von autoritären Kräften wie Russland, China oder auch dem Iran beherrscht werden sollte. Da Russland – im Gegensatz zu China – technologisch rückständig ist und nur auf seine Rohstoffe zurückgreifen kann, denkt er daran, sich Finanzierung und Technologie aus dem viel reicheren Westeuropa zu holen. Putin wird nicht in die EU einmarschieren – er wird versuchen, die EU zu spalten und wirtschaftlich zu erpressen. Die zahlreichen extrem rechten Parteien in Europa und einige autoritäre Staaten sind dabei seine Helfer. Das Haupthindernis für eine erfolgreiche russische Einflussnahme in Europa ist neben der EU die Nato mit ihrer Führungsmacht USA. Schon vor seinem Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 unterbreitete Russland der Nato einen "Friedensplan", der am Ende eine Aufgabe der osteuropäischen Mitglieder durch die Nato bedeutet hätte. Jetzt hofft Putin darauf, dass Donald Trumps Wahlsieg auch das Ende der Nato bedeutet.

Wobei ein Blick in die Geschichte zeigt, dass hier ein langfristiger Plan vorliegt. Im Jahr 2001 hielt Putin eine umjubelte Rede im Deutschen Bundestag, die als Beginn neuer, friedlicher Beziehungen zu Russland gewertet wurde. Aber Putin forderte Europa schon damals auf, die USA längerfristig zu vergessen und stattdessen auf Russland zu setzen: "Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird."

Neue Weltordnung

Also: "Eurasien" von Lissabon bis Wladiwostok, selbstverständlich unter russischer Führung, ein Konzept, das seither immer wieder von hohen russischen Funktionären und Ideologen propagiert wird.

Dieses Konzept verfolgt Putin auch nach 22 Jahren weiterhin, wenn inzwischen auch nicht mehr mit friedlichen Mitteln. Dieses imperialistische Denken ist uns lange, lange nicht bewusst geworden. Man hat auf "Wandel durch Handel" gesetzt und ist gescheitert. Putin schwebt einfach eine neue Weltordnung vor, in der Russland durch eine Dominanz Europas halbwegs im globalen Wettstreit mithalten kann. Die Ukraine hätte gleichsam nebenher einkassiert werden sollen. Dass diese sich erfolgreich wehrte, gab auch Europa eine Chance, sich auf die neue Bedrohung einzustellen. (Hans Rauscher, 26.12.2023)