Wenn die Welt am 31. Dezember vom laufenden Jahr Abschied nimmt, werden die Israelis nicht mitfeiern. In Israel lässt sich diesmal kein Schlussstrich ziehen. Das alte Jahr klingt im neuen nach – auf ohrenbetäubende Weise. Familien bangen um ihre nach Gaza verschleppten Angehörigen oder um Soldaten an der Front. Binnenvertriebene harren in Übergangsunterkünften aus. Und die Überlebenden der Massaker tasten sich vorwärts, auf der Suche nach einem Weg in Richtung einer neuen, posttraumatischen Realität.

Bestimmte bis zum Massaker vom 7. Oktober die Debatte in Israel: die umstrittene Justizreform der Regierung Netanjahu, der Demonstranten bei Prosten im Sommer die Zerstörung Israels vorwarfen.
EPA/ABIR SULTAN

Die Gräuel der Massaker und der Horror des Kriegs überschatten alles, was vor dem 7. Oktober geschah. Das Jahr brachte aber schon in seinen ersten neun Monaten tiefgreifende Veränderungen, die Israels Gesellschaft prägen.

Ungelöste Konflikte

Im Jänner legte Justizminister Jariv Levin seinen Plan für einen grundlegenden Justizumbau vor. Dieser sollte Gerichte und Richter unter Kontrolle der Regierung bringen – es war der Anfang vom Ende für Israels Demokratie. Was folgte, ist bekannt: Massenproteste blockierten Autobahnen und den Flughafen, Ärzte bestreikten Krankenhäuser, tausende Reservisten drohten der Armee mit der Dienstverweigerung. Dass sich die Piloten der Luftwaffe nicht mehr zum Training melden, dass Profis des Militärgeheimdienstes nicht mehr zum Briefing erscheinen, wäre zuvor völlig undenkbar gewesen. Plötzlich war es Normalität. Die alten Bruchlinien zwischen Religiösen und Säkularen lagen auf einmal so offen zutage wie nie zuvor. All die ungelösten Konflikte, die Israel seit der Staatsgründung begleiten, bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche.

Am 7. Oktober wurde die Sorge um Israels Demokratie von der nackten Angst vor der Vernichtung abgelöst. Auf brutale Weise wurde bewusst, wie fragil dieses Land auch in Bezug auf seine äußeren Feinde ist. Die Kriege, die Hightech-Überwachung, die Antiterroreinsätze – all das bot den Zivilisten im Süden keinen Schutz. Jene Reservisten, die sich im Protest gegen die Justizreform zurückgezogen hatten, stehen jetzt verlässlich an der Front. Statt um Demokratie kämpfen sie um das bloße Überleben der Menschen.

Lehren ziehen

Wenn der Krieg vorbei ist und die Wunden versorgt sind, wartet eine schwierige Aufgabe: Lehren zu ziehen. Zwar kann selbst der beste Geheimdienst, die modernste Armee nichts daran ändern, dass vor Israels Grenzen Terrorgruppen sitzen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Israel auszulöschen. Vielleicht wären am 7. Oktober aber weniger Menschen ermordet oder verschleppt worden, hätte man die Warnungen vor einem drohenden Angriff aus Gaza ernst genommen, statt in fast manischer Fixierung nur ein Anliegen zu verfolgen – den Justizumbau. Vielleicht hätten weniger Terroristen ihre Blutspur durch die Kibbuzim ziehen können, wären sie von jenen Truppen abgewehrt worden, die kurz vor dem 7. Oktober von der Gaza-Grenze ins Westjordanland beordert worden waren.

All das sind Fragen, die an die Verantwortlichen in Benjamin Netanjahus Regierung gerichtet werden. Die Lehren daraus müssen dann ihre Nachfolger ziehen. (Maria Sterkl, 29.12.2023)