Seit mehr als 20 Jahren laufen die Vorarbeiten für das Straßenbauprojekt samt Tunnel unter dem Naturschutzgebiet Lobau. Nun spitzt sich der Streit zwischen den Koalitionspartnern ÖVP und Grüne rund um das Bauvorhaben wieder zu.
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Die Debatte um die umstrittene Wiener S1-Nordostumfahrung inklusive Lobautunnel flammt aktuell wieder auf und führt in der Bundesregierung zwischen Türkis und Grün zu massiven Verwerfungen. Dabei hat sich die Ausgangslage nicht verändert: Die grüne Verkehrsministerin Leonore Gewessler hatte schon vor zwei Jahren das Aus für das Milliardenvorhaben erklärt – und dieses angesichts des voranschreitenden Klimawandels vorrangig mit dem Naturschutz begründet. "Ich will nicht draufkommen, dass wir den Kindern die Zukunft verbaut haben", sagte sie am 1. Dezember 2021. Die ÖVP hingegen fordert damals wie heute die Umsetzung des heiklen Tunnelbauvorhabens durch das Naturschutzgebiet. Finanzminister Magnus Brunner verlangte zuletzt in einem Brief an Gewesslers Ministerium, die Blockade für den Lobautunnel zu beenden.

Der Streit um das Projekt dürfte tatsächlich ein Ablaufdatum haben. Zwar versucht das Verkehrsministerium, mittels einer strategischen Prüfung Verkehr die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die geplante S1 aus dem aktuellen Bundesstraßengesetz zu streichen. Dort ist der Bau der Straße nämlich weiterhin vorgesehen – und auf die Umsetzung des im Gesetz vorgesehenen Projekts pocht Finanzminister Brunner. Im Büro von Gewessler wird aber auf die strategische Prüfung Verkehr verwiesen, die im September 2022 gestartet wurde: Gewessler nannte einen Zeitrahmen von etwa zwei Jahren für die Fertigstellung. Die Volkspartei hat aber bereits angekündigt, einer Streichung des Lobautunnels aus dem Gesetz nicht zuzustimmen. Das Patt dürfte sich also bis zur Nationalratswahl 2024 fortsetzen, die wohl im Spätsommer oder Herbst über die Bühne geht. Danach werden die Karten rund um dieses Thema politisch neu gemischt.

Nur Grüne und Neos gegen Lobautunnel

Denn für den Lobautunnel sprechen sich neben der ÖVP auch die Freiheitlichen deutlich aus. Die mächtige Wiener SPÖ ist ebenfalls unbedingt dafür. Allerdings gibt es hier noch Abstimmungsbedarf mit der roten Bundespartei: SPÖ-Chef Andreas Babler zeigte sich nämlich noch im Frühsommer skeptisch, was eine Umsetzung des Tunnel-Vorhabens betrifft. Als eine klare Absage zum Straßenprojekt wollte aber auch Babler seine Ansage zunächst nicht verstanden wissen. Bleiben von den aktuell im Nationalrat vertretenen Parteien einzig die Grünen, die sich vehement gegen den Lobautunnel aussprechen, sowie die Neos, die diesbezüglich etwas zaghafter agieren, aber dennoch alternative Lösungen fordern. Auch Wiens pinker Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr stellte klar, dass er den Tunnel ökonomisch und ökologisch "nicht für die sinnvollste Variante" halten würde.

Abseits des Parlaments verlangt auch die Wirtschaftskammer die Umsetzung des S1-Lückenschlusses und damit die Fertigstellung des Autobahn- und Schnellstraßen-Rings um Wien. Hier fehlt nur noch das 19 Kilometer lange S1-Teilstück zwischen Schwechat und Süßenbrunn inklusive des 8,2 Kilometer langen Lobautunnels unter der Donau und dem Naturschutzgebiet Lobau. Der geplante Straßenring um Wien ist insgesamt 195 Kilometer lang und reicht bis nach St. Pölten. Gegen die Fertigstellung sprechen auch sich zahlreiche Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace, Virus und die Letzte Generation aus.

Das Projekt Lobautunnel ist derzeit gestoppt.
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Trotz der von Gewessler vor zwei Jahren verkündeten Absage des Lobautunnels ist das Projekt seither aber weiterhin Thema vor Behörden und Gerichten. Das bestätigt auch die Asfinag auf ihrer Homepage. "Alle zur Erlangung der Genehmigungen für das Projekt notwendigen Behörden- und Gerichtsverfahren werden (weiter)geführt", heißt es dort. Das bedeutet freilich, dass notwendige Verfahren zu einer möglichen Genehmigung des Projekts noch offen sind – selbst wenn sich eine zukünftige Bundesregierung dazu entschließen sollte, die S1-Nordostumfahrung doch zu bauen. Dazu kommen etwaige Einsprüche von Projektgegnern sowie mögliche Proteste von Umwelt-NGOs. Aus dem Verkehrsministerium heißt es zum STANDARD, dass im aktuellen Bauprogramm der Asfinag "ausschließlich Mittel zum Abschluss der Behördenverfahren vorgesehen" sind. Offen seien etwa noch Verfahren für den Bereich Wasserrecht. Laut Ministerium sei aber "kein Geld für den Bau budgetiert, da das Projekt nicht umgesetzt wird".

Versiegelung wertvoller Böden befürchtet

Die Vorarbeiten für das Straßenbauvorhaben laufen jedenfalls seit bereits mehr als 20 Jahren. Für die Wiener SPÖ ist die S1-Nordostumfahrung trotz der Klimakrise und steigender Temperaturen weiterhin unabdingbar, um den Stau-Hotspot Tangente oder die Ortskerne im Bezirk Donaustadt zu entlasten. Außerdem würde die Stadtentwicklung im massiv wachsenden 22. Bezirk auch an der S1 und am Lobautunnel hängen. Die Schnellbahn unter dem Naturschutzgebiet würde freilich auf der anderen Seite die SPÖ-Initiative "Raus aus dem Asphalt" mit einer massiven Versiegelung wertvoller Böden konterkarieren. Gleichzeitig gibt es nur wenige bekannte konkrete Ausbaupläne für den öffentlichen Verkehr in "Transdanubien", also in Floridsdorf und Donaustadt, wie etwa die Realisierung der Straßenbahnlinie 27 mit sechs neuen Haltestellen bis zur U2-Station Aspern Nord.

Ministerin Gewessler verweist auf das Ergebnis des Klimachecks für die S1-Nordostumfahrung: So habe die Schnellstraße von allen untersuchten Straßenbauprojekten laut der Evaluierung den höchsten Bodenverbrauch ausgewiesen. Alternativen, wie der Verkehr im Osten Wiens auch ohne Tunnel bewältigt werden kann, hat Gewessler aber noch keine präsentiert. Für einen massiven, auch bundesländerübergreifenden Öffi-Ausbau bräuchte es Wien und Niederösterreich an einem Tisch – und wohl üppige Bundesförderungen. (David Krutzler, 29.12.2023)