Zwei Tage vor Weihnachten steigt Stefan Herzog nachts in sein Auto und fährt los ohne Ziel. Er steuert seinen Škoda durch spitze Kurven, links und rechts leuchten Buchen im Scheinwerferlicht. Er beschleunigt auf 60 km/h, dann auf 70. In einer der Kurven bremst er abrupt. Es ist die letzte Kurve vor der Straßensperre, sie ist das Ende von Herzogs Welt.
Einmal im Monat, erzählt Herzog, fährt er so nachts im Kreis, "damit der Motor auf Temperatur kommt". Er wisse, dass das nicht ökologisch ist, aber er wolle sichergehen, dass sein Auto im Winter nicht kaputtgeht. "Hier unten kann's keiner reparieren." So dreht er seine Runden, um den Motor zu wärmen, weil er nirgendwo hinfahren kann. Er sagt: "Das Leben in Guntschach ist ein Leben in der Katastrophe."
Herzog ist einer von rund 70 Bewohnern der Ortschaft Guntschach, die zur Gemeinde Maria Rain in Kärnten gehört. Guntschach, das sind Einfamilienhäuser und Bauernhöfe, eingebettet zwischen dem Rücken der Sattnitz und der Drau. Oder sollte man sagen, die 30 Häuser und Höfe sind zwischen Berg und Fluss nicht eingebettet, sondern eingeklemmt?
Ein Dorfleben mit Risiko
Guntschach ist ein Dorf mitten in Österreich und doch abgeschnitten vom Rest der Welt. Am 15. Dezember 2022 zerstörte ein Felssturz die einzige Straße nach Guntschach. Die Straße hätte sich bald sanieren lassen, aber die Durchfahrt neben dem Felsen blieb gefährlich, sie ist bis heute verboten.
Zunächst wurde ein Notweg errichtet, auf ihm konnten die Bewohner langsam und auf eigene Gefahr entlang der Drau aus dem Dorf rumpeln. Im August, bei den Hochwassern in Kärnten, schwemmte ein Erdrutsch diese letzte Fahrbahn der Bürger in den Fluss. Keine Straße zu haben macht das Leben schwer: den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Freunden. Es macht das Leben auch unsicher, weil in Notfällen Hilfe wohl zu spät kommt.
An der Straße hängt viel
Das kleine Guntschach stellt Politik und Verwaltung vor große Fragen. Wie viel kann eine Gemeinde von den Bürgern verlangen und wie viel die Bürger von ihrer Gemeinde?
Eine Gemeinde ist die kleinste Verwaltungseinheit im Staat. Seit 13 Monaten haben die Bewohner in Guntschach keine vernünftige Straße. Haben sie nicht recht, wenn sie auf die Wiederherstellung der Straße und damit ihres alten Lebens drängen? Oder wiegen die Argumente des Bürgermeisters schwerer, der auf die begrenzten Möglichkeiten einer Gemeinde wie Maria Rain mit 2.700 Einwohnern hinweist?
Derzeit können nur Fußgänger ins Dorf gelangen – mit einer Fähre oder über einen Steig, den ein paar Guntschacher selbst durch den Wald gefurcht haben. Ohne Hilfe der Gemeinde haben die Bürger den Steig an zwei Wochenenden ins Gehölz geschlagen, mit Hauen und Schaufeln, dann Stufen aus Fichtenholz gezimmert und Seile zwischen Bäumen gespannt. Herzog ist Informatiker, kein großer Handwerker, dennoch half er mit.
Vorübergehende Umsiedlungen
Obwohl es Ersatzquartiere in Maria Rain und in einem Sporthotel in Ferlach gäbe, wollen die Leute nicht aus ihren Häusern. Selbst jene, die wegen ihrer Schulkinder unter der Woche im Sporthotel leben, kehren am Wochenende durch den Wald oder mit der Fähre zurück und heizen und putzen ihre Häuser.
Otto Sattmann humpelt durchs Hotelzimmer und sucht seine Visitenkarte. Sein Knie schmerzt, dennoch strahlt er eine urwüchsige Kraft aus. Er ist 68 Jahre alt, aber er schaut jünger aus. "Hier find ich nix, im Haus hätte ich's gleich gefunden", sagt er und hat die Visitenkarte irgendwann doch gefunden.
Es ist Ende September, Sattmann ist mit seiner Familie von Guntschach ins Sporthotel Ferlach gezogen, damit die Kinder in die Schule kommen können. Kürzlich hat er sich noch beim Jagen verletzt, deshalb humpelt er. Sein Knie schmiert er jetzt immer mit Murmeltierfett ein – von einem Murmeltier, das er selbst geschossen hat.
Sattmann besitzt eine Fabrik für Tiefkühlpizza, in Maria Rain ist er ein großer Arbeitgeber. In Guntschach gehört ihm ein Haus mit 340 Quadratmetern, er hat einen Garten und baut Wein an. Nun lebt er auf 60 Quadratmeter gedrängt. Es ist vielleicht kein schlechtes Leben, aber es ist nicht sein Leben. Er will bald zurückkehren. "Der Bürgermeister sagt immer, er haftet für alles. Er haftet aber auch für unser Seelenheil", findet Sattmann.
Vom Bürgermeister enttäuscht
Der Bürgermeister von Maria Rain und damit auch der Ortsteile Oberguntschach und Unterguntschach heißt Franz Ragger (SPÖ), seit 15 Jahren im Amt, ein Dozent an der Musikuniversität in Klagenfurt. Hauptinstrument: Trompete. In Guntschach halten sie von ihm nichts mehr. "Von allen 132 Bürgermeistern in Kärnten haben wir den schlechtesten", sagt einer, der im Dorf ausharrt. "Er ist halt ein Trompetenlehrer", meint eine andere. Ragger sei ein Schwätzer, kein Macher, sagen sie.
Guntschach, Häuser und Scheunen mit steilen Giebeldächern, ein Dorf, so klein, dass es keinen Dorfplatz gibt. Abends stehen die wenigen Bewohner immer vor einem anderen Haus zusammen. Schnell bekommt man einen Klappsessel angeboten, schnell hat man ein Puntigamer in der Hand. In diesem Herbst manchmal nur eine Dose, weil Flaschen schwerer durch den Wald zu schleppen sind. Die Leute wollen keine Interviews geben, sie wollen Gespräche führen. Sie wollen nicht O-Töne für Sender liefern, sie wollen verstanden werden.
Im August muss das Heer kommen
Mit dem Erdrutsch im August schlittert das Dorf vollends in die Katastrophe. Das Bundesheer schickt eine Fähre mit 50 Tonnen Tragfähigkeit und ein kleines Boot, die das Dorf für ein paar Wochen versorgen. Die Soldaten verschiffen Lkws und schweres Gerät, chauffieren aber auch Guntschacher mit ihren Einkaufssackerln. Am 7. September endet der Einsatz, das Bundesheer verlässt Guntschach, die Probleme bleiben.
Wer sich von Guntschach über den Waldsteig nach oben kämpft, braucht zehn Minuten und gute Schuhe. Oben angekommen schwitzt und keucht man, und nach der Lichtung kommt Göltschach, ein anderer Ortsteil von Maria Rain. Es sind schöne Häuser da oben, mit Balkonen davor und sorgfältig geschichteten Holzscheiten. In Göltschach ist die Welt in Ordnung. In Göltschach haben sie ja eine Straße.
Der Zufall will es so, dass das Haus von Bürgermeister Ragger in Göltschach steht, es ist sogar das erste Haus, das ein Guntschacher sieht, wenn er erschöpft aus dem Wald klettert. Tut der Bürgermeister alles, dass auch die Welt unten wieder in Ordnung kommt?
Zehn Monate bis zum Spatenstich
Ragger sagt, ja, er tut alles. Außenstehende wundern sich darüber zunächst: Im Dezember 2022 stürzt der Felsen auf die Straße, Ende Oktober beginnen die Bauarbeiten, zehn Monate später. Ragger erklärt das mit den gesetzlichen Verfahrensdauern für Aufträge und Bewilligungen. Zunächst habe er mit einer Unterabteilung des Landes Kärnten, der Agrartechnik, verhandelt. Als nichts weiterging, schwenkte er auf die Wildbach- und Lawinenverbauung (WLV), eine Stelle im Landwirtschaftsministerium, um. Die WLV ließ eine vom Ministerium geforderte Studie durchführen; unter den sieben Varianten für eine Lösung waren auch skurril anmutende wie eine Brücke, eine Steinschlaggalerie und ein Tunnel. Im Sommer stand fest, was ohnehin von Anfang an logisch schien: Die alte Guntschacher Straße wird renoviert, der steil aufragende Felsen stufenweise abgetragen.
Es kam zu Probebohrungen, Gesprächen mit Anrainern, Bäume wurden gefällt. Derzeit wird um knapp drei Millionen Euro saniert. "Es hat sich herausgestellt, dass die Agrartechnik keine Kapazitäten hat. Da haben wir leider ein bis zwei Monate verloren", sagt Ragger am Telefon. Ein persönliches Treffen lehnt Ragger kurz vor Weihnachten ab, keine Zeit, er müsse den Bürgern Weihnachtsglückwünsche überbringen.
In der WLV sagt auch Hannes Burger, Leiter der Region Kärnten Süd, es gehe nicht schneller: "Die Gemeinde hat ihren Beitrag geleistet, sie hat die notwendigen Dinge am schnellsten Weg beschlossen. Eine Gemeinde muss dann abwarten, was wir tun."
Kommunikationsfehler
Niemand kann den Bürgermeister aber von seinen Kommunikationsfehlern freisprechen. Am 17. Dezember 2022 verspricht Ragger in der "Krone" einen Notweg ab dem 19. Dezember. Er wird erst im Jänner fertig.
Im August kündigt der Bürgermeister den Guntschachern in der "Kleinen Zeitung" an, es werde "noch heuer" wieder eine Straße geben, sie müssten "jetzt noch zwei, drei Monate durchhalten". Bis heute gibt es keine Straße.
Am 31. Oktober weckt Ragger neue Hoffnungen. "Mitte Dezember wird die Straße wieder stundenweise befahrbar sein", sagt er. Auch daraus wird nichts.
Wenn man Ragger nun fragt, ob er nicht immer wieder zu viel versprach, sagt er: "Ja, das mache ich jetzt auch nicht mehr. Ich sage jetzt keinen Termin mehr. Es ist eh alles falsch, was ich als Bürgermeister mache."
Bürgermeister tadelt Bürger
In Guntschach machen die Bürger inzwischen vieles selber, was in den meisten Orten die Gemeinde übernimmt. Sie schippern ihren Müll mit der Fähre über die Drau oder tragen ihn durch den Wald. Im November übernahmen sie die Schneeräumung, statt des Schneepflugs der Gemeinde fuhr ein Bewohner mit Traktor und Heckschaufel los. Ein anderer kaufte sich ein Boot, groß genug, um auch eine Waschmaschine über die Drau zu bringen. In Guntschach wird viel gearbeitet und wenig drüber geredet.
Bürgermeister Ragger könnte dankbar für solche Bürger sein, aber er klingt nicht dankbar: "Das ist Eigenverantwortung. Das ist leider so im Leben, hilft nix." Er wirft den Betroffenen Ungeduld, ja Skrupellosigkeit vor. Man muss wissen: Bei ähnlichen Baggerarbeiten wie in Guntschach sind im Vorjahr in Oberösterreich zwei Bauarbeiter gestorben. "Die Guntschacher wollen die Straße wieder haben, egal ob da jetzt vielleicht zwei, drei tote Baggerfahrer sind. Das ist ihnen auch wurscht", sagt Ragger. Man fragt nach, ob er das wirklich so meint. Er sagt: "Ja, ich habe das Gefühl, dass es einigen ziemlich egal wäre."
"Amerikanische Verhältnisse"
Herzog parkt sein Auto in die letzte Kurve vor dem Felsen und stapft hinauf in den Wald. Es ist das erste Wochenende im September, weiches Sonnenlicht fällt durch die Buchen. Er will zeigen, wie das so ist, wenn man als Guntschacher zum Einkaufen oder zur Arbeit kommen will. Der Weg ist steil, Herzog klammert sich an ein Seil, das die Guntschacher zwischen die Bäume gespannt haben.
"Das ist ein Weg für Gämsen, kein Weg für Menschen. Ich will mein Leben nicht andauernd riskieren müssen, um zur Arbeit zu kommen", sagt er. Eine Gemeinde sei doch für die Bürger verantwortlich. "Sonst kriegen wir bald amerikanische Verhältnisse, wenn jeder sich selbst überlassen wird. Wollen wir das? Ich nicht."
Vernichtete Ernte
Christian Webernig steht mit einer Zigarette vor seiner Maschinenhalle und sieht das Geld davonrinnen. Es ist November, der Landwirt hat ein schlechtes Jahr hinter sich, und ein schlechtes steht bevor. Im Frühjahr verlor er seine Gewinne, er konnte Mais und Weizen nicht ernten. Mähdrescher waren für den Notweg zu schwer und konnten nicht ins Dorf gelangen.
Heute stapeln sich in Webernigs Halle die Heuballen, die er wiederum nicht rausbekommt. Sein Holz kann er auch nicht verkaufen, weil keiner es holen kann. "Kann sein, dass ich meine Holzkunden für die nächsten Jahre verloren habe", sagt der Bauer und schnippt die Zigarette auf den gefrorenen Boden. In Guntschach geht es nicht nur um politische Fragen, es geht auch um bares Geld.
In der Warteschleife des Staates
Guntschach führt vor Augen, wie das ist, wenn die Dreifaltigkeit aus Bund, Land und Gemeinde die Dinge nicht mehr reparieren kann, zumindest nicht kurzfristig.
In der Schweiz schlägt die liberale Denkfabrik Avenir Suisse für "potenzialarme", also abgelegene Dörfer wie Guntschach bereits Absiedelungen vor. Das wird in dem Dorf in Kärnten nicht geschehen, jedenfalls nicht freiwillig. Die Menschen dort sind tief verbunden mit ihren Häusern und ihrer Landschaft.
Guntschach kann man auch als Blaupause für andere Orte verstehen, die einmal von ähnlichen Naturkatastrophen heimgesucht werden. Auch wenn Raumplaner vielleicht gut argumentieren können, eine Ortschaft aufzugeben oder abzusiedeln, wird das in Österreich wohl selten geschehen. Das Vorhaben würde oft an der gesellschaftlichen Wirklichkeit zerschellen.
Ist Österreich vorbereitet?
Dabei werden Extremwetter und Naturkatastrophen in Österreich wegen des Klimawandels zunehmen. Es gibt schwerere Hochwasser und mehr Hangrutschungen, wie man in der Wildbach- und Lawinenverbauung bestätigt. "Ich habe nicht das Gefühl, dass wir in Kärnten im voranschreitenden Klimawandel mit unserem Krisenschutz gut aufgehoben sind", sagt Brigitte del Fabro, die Lebensgefährtin von Stefan Herzog, die mit ihm im abgeschnittenen Tal lebt. "Wenn man sich Guntschach anschaut, werden noch viele Menschen verloren sein."
Kurze Heimkehr zu Weihnachten
Es ist zwei Tage vor Weihnachten, der Abend, an dem Herzog im Škoda seine Runden dreht. Die letzte Fähre des Tages kommt um halb sechs in Guntschach an. Sie ist voller Menschen.
Die Fähre bringt Bier und Zigaretten nach Guntschach, aber auch Fleisch, Kartoffeln und Stofftiere für die Kinder. Im Buglicht der Fähre wird am Ufer ein Traktor sichtbar, er hat vier Christbäume aufgeladen, bereit zum Transport. Jeder hilft jedem in Guntschach.
Otto Sattmann sieht man an diesem Tag auf einer alten Puch MS 50 durch den Ort rollen, seinem Knie gehe es besser, sagt er. Das Murmeltierfett hat wohl geholfen.
Stefan Herzog und Brigitte del Fabro haben in ihrem Haus den Christbaum bereits im November aufgestellt. Sie vermissen ihre Freunde, die sie kaum noch besuchen. Auch ein Baum kann ein bisschen Trost spenden.
Webernig, der Landwirt, hat drei Kinder, die jüngsten sind sechs und acht Jahre alt. "Weihnachten soll für sie schön sein, das lasse ich mir von keiner Gemeinde auf der Welt nehmen", sagt er.
Guntschachs Lage bleibt schwierig
Selbst wenn der Felsen abgetragen und die Straße saniert sein wird, wird Guntschach nicht alle Probleme los sein. Der sogenannte Tumpelgraben, durch den ein Bach fließt, birgt Gefahren wie Hochwasser und Verklausungen. Die WLV will die Verbauung des Tumpelgrabens zwar bald angehen. Die Guntschacher aber sind beunruhigt: Je mehr Häuser oben in Göltschach noch den Boden versiegeln, umso mehr Wasser fließt zu uns runter, sagen sie.
Bürgermeister Ragger, der eigentlich keine Termine mehr nennen will, hält am Telefon dann doch für möglich, "dass der Felsen bis März abgetragen sein wird, falls nichts Unvorhersehbares passiert". Er sagt: "Dann wird die Bevölkerung sich wieder beruhigen." Mit der Straße soll der Friede kommen. Mal schauen, ob der Bürgermeister diesmal recht behält. (Lukas Kapeller, 6.1.2024)