Für Menschen, denen an der Einheit Europas gelegen ist, sollte es 2024 eigentlich viel zu feiern geben. Am 1. Mai werden es 20 Jahre seit der "Osterweiterung" der EU sein, wo acht ehemals kommunistische Länder, darunter drei ehemalige Sowjetrepubliken, der Union beitraten. Aus stalinistischen Diktaturen waren damit endgültig vollwertige Demokratien geworden, die auch ihre Wirtschaft reif für den gemeinsamen Markt gemacht hatten.

Noch mehr könnte sich Österreich am 12. Juni darüber begeistern, dass an diesem Tag vor 30 Jahren eine überwältigende Mehrheit von 67 Prozent beschlossen hat, sich der EU anzuschließen und damit der Welt zu öffnen. Das dritte Jubiläum wird wohl am wenigsten beachtet werden: Am 5. Mai vor 75 Jahren wurde der Europarat gegründet, jene stets unterschätzte Organisation, die in aller Stille, aber hartnäckig und ziemlich erfolgreich für die Durchsetzung der Menschenrechte kämpft.

EU-Flagge
Im Juni werden die Abgeordneten des Europaparlaments gewählt.
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Dazwischen finden 2024 noch die Wahlen zum Europäischen Parlament statt, und da ist es dann mit der Feierlaune schnell vorbei. Wenn die Umfragen stimmen, werden ausgerechnet jene Parteien an Einfluss gewinnen, die mit antieuropäischer Rhetorik in den Wahlkampf ziehen. Ein erstarkter Block mit AfD, Partij voor de Vrijheid, Rassemblement National und FPÖ vermag viel an destruktiver Energie aufzubringen, um gemeinsame Beschlüsse in Brüssel zu erschweren.

Entscheidungsschwäche kann die Staatengemeinschaft aber in diesem Jahr am wenigsten brauchen, denn die Welt da draußen ist um vieles feindseliger geworden. Europa muss um seinen Platz in der neuen Weltordnung kämpfen. Die aktuelle Arena-Analyse zeichnet ein beunruhigendes Bild: Wir erleben das Ende der Ära der Globalisierung, wo weltweiter Handel vor allen anderen Interessen dominierte und ein gewisses Maß an Zusammenarbeit erzwang. Es bricht eine Zeit der Konflikte und Konfrontationen an, es geht um Hegemonie und Einflusssphären.

Friedensprojekt EU

Die Machtblöcke, die einander gegenüberstehen, sind nicht scharf abgegrenzt. China, Russland und Iran sehen zwar prinzipiell den Westen als Feind, verfolgen aber immer wieder auch divergierende Interessen. Länder wie Indien, Brasilien und Südafrika haben klargemacht, dass sie in jedem Einzelfall überlegen wollen, wem sie sich anschließen. Die USA könnten sich unter einem wiedergewählten Präsidenten Donald Trump vollends von Europa abwenden.

Für die EU gewinnen deshalb Fragen der Sicherheit an Bedeutung, allen voran die militärische, die lange Zeit vernachlässigt wurde. Gerade weil die EU ihrem Wesen nach ein Friedensprojekt ist und sein will, werden die Mitgliedsstaaten aufrüsten müssen. Nicht nur mit Kanonen, sondern auch im Bereich der hybriden Kriegsführung, also gegen die Destabilisierung durch Hackerangriffe oder die Desinformation in sozialen Medien. Ebenso wird die Standortpolitik den Fokus stärker auf Resilienz und den Abbau von Abhängigkeiten legen müssen. Der Aufbau einer europäischen Produktion bei Computerchips oder Batteriespeichern wurde ja bereits in Angriff genommen.

Gemeinsame Interessen

Die gemeinsamen Interessen gehen in diesem Fall über die EU hinaus, das zeigt der große Zuspruch, den die Gründung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) hervorgerufen hat. Das gemeinsame Ziel der EU-27 sowie 18 weiterer Länder, von Armenien bis Island, lautet: Sichern der Energieversorgung, Reduzieren von Abhängigkeiten, Kampf gegen den Klimawandel.

Die Chancen stehen gut, dass auf diese Weise stärker sichtbar wird, warum die EU bisher trotz aller Querelen so erfolgreich war. Immerhin lässt sich nicht bestreiten, dass die Union eine weltweite Führungsrolle bei zentralen Zukunftsfragen eingenommen hat, etwa bei der Transformation zu Klimaneutralität oder bei der Zähmung der Digitalisierung – bis hin zu ersten Regeln für künstliche Intelligenz.

Zu Europas Alleinstellungsmerkmalen gehört neben Demokratie und Wohlstand die Fähigkeit zur Versöhnung scheinbarer Gegensätze. Der europäische Weg vereint Wettbewerb mit Solidarität, Wachstum mit Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Freiheit mit sozialer Sicherheit, Gemeinsamkeit mit Vielfalt und regionaler Eigenständigkeit. Ein Arsenal an Softpower, das gerade in unsicheren Zeiten Wirkung entfalten sollte. (Walter Osztovics, 4.1.2024)