Grafik Libero
Manchmal stand der Libero hinter der Abwehr, manchmal stand er auch vor der Abwehr. Und er hatte die Freiheit, den sich ihm bietenden Raum zu nutzen, dies freilich laufend, nicht stehend.
Grafik: STANDARD / Fatih Aydogdu

Freiheit. Viele Leserinnen und Leser können sich gewiss noch an einen wunderbaren STANDARD-Schwerpunkt erinnern, der sich um nicht mehr und nicht weniger als genau darum drehte. Und wenn sie sich erinnern können, so haben sie garantiert auch jenen famosen Sportessay vor Augen, der Wolfgang Weisgram unter dem Titel "G'schichten vom freien Mann" aus der Feder rann. Anlässlich des Ablebens von Franz Beckenbauer sei daran und generell an den Libero erinnert, der dem Spiel jahrzehntelang seinen Stempel aufgedrückt hat. Sei es als Ernst Happel, als Armando Picchi oder als Franz Beckenbauer, sei es als Erich Obermayer, als Heribert Weber oder als Traianos Dellas.

Individuelle Interpretationen

Weisgram seinerzeit über Beckenbauer und dessen Freiheit: "Die Rolle des Liberos bietet eine große Möglichkeit für individuelle Interpretationen. Als Spielzerstörer lässt er sich ebenso anlegen wie als Spielgestalter. Franz Beckenbauer war diesbezüglich fast stilprägend. Nicht zuletzt ihm ist der gute Ruf dieses Rollenfachs zu verdanken. Beckenbauer nahm sich jene Freiheit, die im Namen steckt. Dass er dies nur tun konnte, weil andere – allen voran sein Vorstopper Hans-Georg Schwarzenbeck – ihm den Rücken freihielten, schmälert nicht die Eleganz, die er in den bundesdeutschen Fußball brachte."

Heribert Weber heute zum STANDARD: "Viele gute Liberos waren zuvor im Mittelfeld daheim, wo sie schon das Spiel gestaltet haben, und sind dann zurückgegangen oder vom Trainer zurückbeordert worden." Denn nur von hinten ließ sich damals wirklich "das Spiel entwickeln", und darin war Beckenbauer herausragend. "Seine Technik und seine Übersicht waren grandios", sagt Weber. "Und im Zweikampf war er vielleicht nicht der Beste, aber auch sehr gut."

Heribert Weber mit Mikrofon in der Hand.
"Als Libero hattest du keinen direkten Gegenspieler, dafür viele Freiheiten", sagt Heribert Weber. "Das hat mir enorm viel Spaß gemacht."
APA/EVA MANHART

Torgefährlichkeit

Der Libero sollte seine Freiheit nützen und "womöglich sogar torgefährlich werden". Das ist sowohl Beckenbauer gelungen, wovon 60 Tore in 427 Bayern-Spielen und 14 Tore in 103 Länderspielen für Deutschland zeugen, als auch Weber, der in 581 Bundesligapartien (für Sturm, Rapid und Austria Salzburg) auf insgesamt 57 Treffer kam. Dass sein Schnitt im Nationalteam (68 Spiele, ein Tor) viel schlechter war, erklärt Weber so: "Chancen wären schon da gewesen, vor allem nach Standardsituationen, aber im Team hab ich viel versemmelt."

Auch er hatte nicht in der Verteidigung begonnen, sondern sogar als Mittelstürmer sein erstes Bundesligator erzielt, als er Sturm zu einem 1:0 gegen Rapid köpfelte. Doch richtig wohl hat sich Weber erst als Libero gefühlt. "Da hattest du keinen direkten Gegenspieler, dafür viele Freiheiten, das hat mir enorm viel Spaß gemacht."

Obermayers Café Libero

Vor Weber gab Erich Obermayer den Libero im österreichischen Nationalteam. Der Wiener, der zeit seiner Karriere für die Austria spielte und dabei in 543 Partien 16-mal traf, war freilich weniger torgefährlich, um nicht zu sagen: Er war es gar nicht. Davon zeugt auch seine Teamkarriere, die in 50 Länderspielen exakt einen Treffer zeitigte, das Ehrentor beim 1:5 gegen die Niederlande bei der WM 1978.

Im Gegensatz zu Weber war Obermayer dem Kaiser Franz auch auf dem Feld begegnet, etwa in aller Freundschaft beim Länderspiel am 3. September 1975 im Wiener Prater. Österreich verlor mit 0:2, Beckenbauer konnte freilich maximal indirekt etwas dafür, er wurde zur Pause bei 0:0 ausgewechselt, just sein Ersatzmann Erich Beer erzielte dann beide Tore der Gäste. Obermayer hörte 1985 im Team und 1989 bei der Austria auf, später führte er natürlich nicht irgendein Kaffeehaus, sondern das Café Libero in Meidling.

Rehhagel und Dellas mit EM-Pokal.
Libero Traianos Dellas (links) und Griechenlands Erfolgstrainer Otto Rehhagel feiern den sensationellen EM-Titel 2004.

Ein Österreicher als Pionier

Wer hat's erfunden? Ein Österreicher, aber immerhin im Verbund mit der Schweiz. Es war genau so, wie Wolfgang Weisgram ballaverte: "Der Wiener Karl Rappan hat in den 1930er-Jahren der schweizerischen Nationalmannschaft ein neuartiges Defensivsystem angemessen, den sogenannten Schweizer Riegel. Mit dem gelangen – trotz der ballesterischen Scharten, die Rappan mit der neuen Taktik ja ausdengeln wollte – spektakuläre Erfolge."

Und weiter: "Rappan nannte die Position hinter der Abwehr, dem Augenschein näher, noch nicht Libero, sondern Ausputzer. Nach dem Zweiten Weltkrieg brillierte ein junger Klubkollege Rappans in dieser Rolle. Aber Ernst Happel interpretierte in der großen Rapid-Mannschaft der frühen 1950er-Jahre diesen Ausputzer aufregend neu. Spielerischer. Eleganter. Gewitzter. Man könnte sagen beckenbauerisch, wenn es nicht genau umgekehrt gewesen wäre."

Riegel und Catenaccio

Seinen Namen erhielt der Libero erst im Italien der 1960er-Jahre. Da ließ der argentinische Trainer Helenio Herrera die Internazionale in Mailand sozusagen schweizerisch riegeln, was auf Italienisch quasi "Catenaccio" hieß und zur Mutter aller Defensivsysteme wurde. Herrera war es, der den Libero taufte. Der freie Mann. Bei der "Grande Inter" war er in Person von Armando Picchi vor allem auch beinhart. Den Esprit steuerten erst später andere bei.

Als die ersten Viererketten geschmiedet wurden, hatte der Libero bald ausgedient. "Mit den Viererketten ließ sich das Spielfeld kleiner machen", sagt Weber, aber er sagt auch: "Zumindest ansatzweise ist das Libero-Spiel natürlich auch heute noch erkennbar."

Handshake
Franz Beckenbauer gratuliert David Alaba 2018 zum Meistertitel mit dem FC Bayern.
imago/Ulmer

Nämlich dann, wenn sich ein Innenverteidiger ein Herz nimmt, ein Innenverteidiger, der technisch versiert ist, ein Innenverteidiger, der einen präzisen Pass spielen kann und der vielleicht auch einmal "selbst mitgeht" nach vorne. Einer, nur zum Beispiel, wie David Alaba. Weber: "Wenn einer wie Alaba mitgeht und plötzlich Platz hat, dann wird sich ein gegnerischer Verteidiger um ihn kümmern müssen, und dann entsteht Platz für die Mitspieler."

Renaissance dank Rehhagel

2004 erlebte der klassische Libero eine unerwartete, letzte Renaissance. Diese hatte er Otto Rehhagel zu verdanken, der Griechenland bei der EM in Portugal sensationell zum EM-Titel coachte. Der griechische Stürmer Angelos Charisteas gab später in einem Interview zu Protokoll: "Rehhagel sagte: 'Wir haben keinen Messi, also spielen wir mit Libero.'"

Der Libero hieß Traianos Dellas, er wurde ob seiner Größe (1,96 m) der Koloss von Rhodos genannt und war bei seinem Verein AS Roma meistens auf der Ersatzbank gesessen. Doch für den griechischen Erfolgslauf war Dellas, im EM-Semifinale der Torschütze zum 1:0 über Tschechien, fast ebenso wichtig wie Charisteas, der mit insgesamt drei Toren der erfolgreichste griechische Schütze war und das finale 1:0 über Portugal besiegelte.

Heute kommt der Libero einerseits noch in wirklich wahnsinnig witzigen Sprüchen daher ("Libero als gekocht"), andererseits bereits seit 1999 auch im Volleyball. Da ist sein Name dem Fußball entlehnt, seine Position und die Aufgaben aber sind ganz andere. Der Libero oder auch die "Libera", wie sie im Frauenvolleyball manchmal genannt wird, trägt ein Trikot in eigener Farbe und darf nur auf den hinteren Positionen eingesetzt werden. Nicht einmal einen Aufschlag darf er oder sie ausführen und auch nicht blocken. Armando Picchi wäre das vielleicht egal gewesen. Aber Ernst Happel, Franz Beckenbauer und auch Heribert Weber hätten sich schön bedankt. Von wegen Freiheit. (Fritz Neumann, 10.1.2024)

Sechs Frauen des SSC Palmberg Schwerin bilden einen Kreis und jubeln.
Im Volleyball lebt die Position des Libero/Libera weiter. Im Bild zu sehen der SSC Palmberg Schwerin. Libera Anna Pogany trägt das weiße Trikot.
IMAGO/Norina Toenges