Israelische Soldaten im völlig zerstörten Gazastreifen.
Der Krieg sorgt nicht nur in der Region für Spaltung, Spannungen und Ängste vor einem großen Krieg.
AFP/Israeli Army/-

Wer am vergangenen Sonntag am Beiruter Flughafen nach Gate oder Gepäckband suchte, fand auf den Infobildschirmen stattdessen eine Nachricht an die libanesische Hisbollah-Miliz: "Ihr werdet keine Unterstützer mehr haben, wenn ihr den Libanon in einen Krieg stürzt, für den ihr die Verantwortung tragt." Auch wenn die Hacker noch unbekannt sind, macht der Cyberangriff deutlich, welche Gefahr hundert Tage nach dem Hamas-Massaker und dem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern in der Region lauert.

Was droht, ist ein Krieg zwischen Israel und der Hisbollah, der nach und nach auch den Iran und die USA auf den Plan rufen könnte. Zwar wird allseits betont, dass niemand einen solchen Krieg wolle. Und doch dreht sich die Eskalationsspirale zwischen Israel und seinen Erzfeinden – dem Iran und verbündeten islamistischen Milizen – immer weiter.

Bomben im Jemen

Das geschieht auch im Jemen, wo in der Nacht auf Freitag die USA und Großbritannien insgesamt 60 Angriffe auf 16 Stellungen der Huthis koordiniert und mithilfe von Australien, Bahrain, Kanada und den Niederlanden durchgeführt haben. US-Präsident Joe Biden bezeichnete die Militärschläge, die von Kampfjets, Kriegsschiffen und U-Booten ausgeführt wurden, als direkte Reaktion auf die "beispiellosen Angriffe der Huthis" auf die internationale Schifffahrt im Roten Meer. Die Rebellen meldeten fünf Tote und sechs Verletzte und drohten sogleich mit Vergeltung und einer Fortsetzung ihrer Angriffe, um Schiffe mit Israel-Bezug an einer Durchfahrt durchs Rote Meer zu hindern – aus "Solidarität mit den Palästinensern".

Von Israel zerstörte Häuser im Gazastreifen.
Israel hat im Gazastreifen in drei Monaten ein unvorstellbares Maß an Zerstörung hinterlassen.
AFP/JACK GUEZ

Nach drei Monaten Krieg lehnt Israel trotz internationaler Rufe nach einer Feuerpause und Kritik wegen mutmaßlichen Völkerrechtsverstößen einen Stopp seines Militäreinsatzes gegen die Hamas im Gazastreifen strikt ab. Ein solcher Schritt würde Israel wehrlos machen, sagt die israelische Führung mit Blick auf den 7. Oktober. An jenem folgenreichen Samstag hatten rund 3000 Terroristen der Hamas und anderer Gruppen aus dem Gazastreifen im Schatten von heftigem Raketenfeuer auf Israel den milliardenteuren Hightech-Grenzzaun an 29 Stellen durchbrochen und ihn auch mit Gleitschirmen überwunden. Dann drangen sie in Dörfer, Kibbuzim und auf ein Techno-Festival vor, um dort blanken Horror zu entfachen: Sie ermordeten 1139 Israelis, darunter Kleinkinder, vergewaltigten, verstümmelten und verschleppten viele mehr.

Nichts mehr, wie es einmal war

Es dauerte Stunden, bis das Militär reagierte. All das hat Israel verändert. Nicht nur die Überlebenden und Hinterbliebenen werden das Trauma wohl nie ganz überwinden, sondern das ganze Land. Jedenfalls nicht, solange israelische Soldaten in Gaza fallen und Angehörige um – nach aktuellem Stand – 132 Geiseln in den Händen der Hamas bangen. Einige davon sollen nicht mehr am Leben sein. (Anm.: Teils wird auch die Zahl 136 genannt – dabei zählt Israel auch die Leichen zweier Soldaten dazu, die 2014 entführt worden waren, sowie zwei weitere Israelis, die seit damals in Gaza festgehalten werden.). Auch der Glaube an Israels Sicherheitsarchitektur ist erschüttert. Das könnte den von der Hamas überrumpelten Premier Benjamin Netanjahu das Amt kosten.

Polizisten schützen eine flüchtende Frau und ihr Kind.
Am 7.Oktober verrichtete dieHamas unvorstellbares Grauen in Israel.
AP/Tsafrir Abayov

Sein Kriegskabinett hat die hochgesteckten Ziele Geiselbefreiung und Zerstörung der Hamas nach drei Monaten noch nicht erreicht: Zwar will die Armee rund ein Drittel der auf 30.000 geschätzten Kämpfer der Hamas getötet und im Norden erfolgreich deren Strukturen zerschlagen haben – doch ihr Anführer Yahya Sinwar ist noch am Leben; und vernichtet ist die dezimierte Terrorgruppe noch nicht, wie vereinzelte Raketenangriffe auf Israel zeigen. Dabei hat Israel schon bisher kaum einen Stein auf dem anderen gelassen: 70 Prozent der Häuser in Gaza wurden beschädigt oder zerstört, 85 Prozent der Menschen vertrieben und jeder Hundertste der zwei Millionen Bewohner getötet, viele davon liegen unter Trümmern begraben.

Nicht nur vor Ort, sondern auch in Debatten weltweit drängt das Leid einer Seite oft jenes der anderen in den Hintergrund. Antisemitismus und Entmenschlichung haben den Krieg auch hierzulande in Schulen und soziale Medien geholt. DER STANDARD fasst zusammen, welche Kreise 100 Tage Krieg bisher gezogen haben:

Tagelang suchte Rami Awad nach einem Zelt, um seine Familie in Sicherheit zu bringen – vergeblich. In der Dreikönigsnacht wurde seine Wohnung in Khan Younis im Süden Gazas zerstört. Nur einer der drei Söhne, der elfjährige Mahmoud, der bei einem Onkel übernachtet hatte, überlebte und musste seine getöteten Eltern und Geschwister tags darauf identifizieren. Sein Schicksal ist nur eines von tausenden, die zeigen, wofür der Satz "Gaza ist die Hölle auf Erden" steht.

Verletzte Kinder im Gazastreifen.  
Viele Kinder sind Opfer israelische Luftschläge.
AFP/MOHAMMED ABED

Die Heftigkeit von Israels Reaktion erinnert an die im Libanonkrieg 2006 entwickelte Dahie-Doktrin, wonach jeder Angriff mit unverhältnismäßiger Gewalt beantwortet wird, um Angreifer abzuschrecken. Trotz Warnungen an Zivilisten sind die Folgen furchtbar: Israel meldet 8000 bis 9000 tote oder festgenommene Hamas-Kämpfer. Nach früheren Angaben, wonach man je ausgeschalteten Terroristen mit zwei toten Zivilisten als "Kollateralschaden" rechnet, deuten diese Zahlen auf 16.000 tote Zivilisten oder 24.000 Tote hin – was den Hamas-Zahlen entspricht. Im Schnitt wären das 160 getötete Zivilisten pro Tag – seit 100 Tagen. Zu viele, befindet auch Israels wichtigster Verbündeter.

Für die USA entbehrt zwar Südafrikas seit Donnerstag beim Gerichtshof in Den Haag vorgetragene Völkermordklage jeglicher Grundlage. Doch das Gerede ultrarechter Minister über eine Vertreibung der Menschen aus Gaza und die Gewalt im besetzten Westjordanland versetzten die USA, die an der fernen Zweistaatenlösung festhalten, in Sorge.

Verliert nicht die Hoffnung: Wir stellen die Welt auf den Kopf, um euch zurückzuholen." Riesige Lautsprecher ließen am Donnerstag Worte wie diese und Liebesbotschaften von Geiselangehörigen in Richtung Gazastreifen hallen. Zu schaffen macht ihnen zunehmend auch der Eindruck, dass die Geiseln immer mehr in Vergessenheit geraten, während keine Aussicht auf einen neuen Geiseldeal besteht. Daher wird auch am Wochenende wieder lautstark protestiert.

Angehörige fordern mit Fotos die Freilassung ihrer Liebsten.
"Bring them home", fordern Angehörige der Geiseln unermüdlich.
AFP/AHMAD GHARABLI

Schon vor der irrtümlichen Erschießung dreier Geiseln durch eigene Soldaten war Netanjahu mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht genug für weitere Befreiungen zu tun. Auch dass viele Bürger noch nicht in ihre Häuser in den Gebieten an den Grenzen zu Gaza und dem Libanon zurückkehren können, wird ihm, der in den Monaten vor dem Massaker alle Sicherheitswarnungen in den Wind schlug und lieber eine umstrittene Justizreform vorantrieb, vorgehalten. Diese hat das Höchstgericht nun vom Krieg unbeirrt gekippt.

Die Mitglieder der iranischen "Widerstandsachse" – darunter Milizen im Libanon, Jemen und Irak – verstehen es, mit dem Leid der Palästinenser in der eigenen Bevölkerung zu punkten. Die Huthis gefährden mit Angriffen den Schiffverkehr im Roten Meer. Nach wochenlangen Mahnungen haben westliche Verbündete diese nun unter der Führung der USA mit Luftschlägen beantwortet und den regionalen Konflikt ausgeweitet.

Huthi-Kämpfer landen mit einem Hubschrauber auf dem Deck eines Frachters.
Die Huthi-Rebellen entführten im November einen Frachter im Roten Meer.
AFP/ANSARULLAH MEDIA CENTRE/-

Und zwischen Israel und der Hisbollah, die Israels Armee im Norden beschäftigt, ist jeder noch so kalkulierte Vergeltungsschlag eine kleine Eskalation. Vorläufiger Höhepunkt: Im Libanon tötete Israel jüngst Hamas-Anführer Saleh Al-Arouri und zwei Kommandanten der Hisbollah.

Die Miliz griff einen Stützpunkt an, der für die nördliche Luftraumüberwachung (samt Syrien) zuständig sein soll. All das schürt Ängste, eine Seite könnte sich verkalkulieren. Zudem droht Israel trotz US-Warnungen mit einer Militäroperation, wenn die Grenze nicht zur Ruhe kommt: "Die Zeit für Diplomatie läuft aus."

Rauch nach israelischen Luftschlägen im Südlibanon.
Rauch nach israelischen Luftschlägen im Südlibanon.
AFP/JALAA MAREY

Im großen Sitzungssaal der UN-Generalversammlung in New York stimmten Mitte Dezember 153 Mitgliedsländer für eine sofortige Feuerpause zwischen Israel und der Hamas. Österreich votierte dagegen – so wie die USA, Israel und gerade einmal sieben weitere Länder. Grund: Die Hamas wurde in Bezug auf die Geiselnahmen nicht klar verurteilt. China und der sogenannte Globale Süden hingegen, darunter Brasilien und Südafrika, hatten schon bei der vorhergehenden Abstimmung Ende Oktober eine Verurteilung der Hamas-Gräuel großteils abgelehnt.

Was bereits beim Ukrainekrieg offensichtlich wurde, zeigt sich nun immer deutlicher: Die meist autokratisch regierten Länder des Südens agieren auf der Weltbühne selbstbewusster – vor allem, wenn es gegen die USA geht. Dass der Gazakrieg jenen in der Ukraine von den oberen Rängen der Schlagzeilen verdrängt hat, dürfte zudem einen freuen, der sich gerne als Alphatier all jener versteht, die gegen den Westen agitieren: Wladimir Putin.

Schwer bewaffnet bewachten Polizistinnen und Polizisten kurz vor Weihnachten den Wiener Stephansdom, der beliebte Silvesterpfad in der Innenstadt ging ebenfalls unter besonders wachsamen Augen der Exekutive über die Bühne. Erst Mitte der Woche wurden die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen wieder zurückgefahren. Mehrere Terrorverdächtige, sie sollen dem "Islamischen Staat Provinz Khorasan" (ISKP) angehören, waren zwischenzeitlich festgenommen worden, auch Ziele in Köln und Madrid sollen im Fokus gestanden sein.

Überhaupt, so die EU-Polizeibehörde Europol, sei die Terrorgefahr in Europa seit den Hamas-Anschlägen in Israel massiv gestiegen. Während sich jihadistische Gruppen wie IS und Al-Kaida nun neu international profilieren wollten, gehe es der Hamas darum, ihre Kampfzone auch außerhalb der Palästinensergebiete zu erweitern. Selbst im fernen Argentinien wurden rund um den Jahreswechsel Terrorverdächtige festgenommen, die laut den Behörden Anschläge auf Jüdinnen und Juden geplant haben sollen.

Als wenige Tage nach dem Hamas-Massaker hunderte Menschen auf dem Wiener Ballhausplatz der Opfer gedachten, sorgte eine Warnung der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) im Vorfeld für Aufsehen: Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten es tunlichst vermeiden, bei der Anreise Israel-Fahnen oder auch die jüdische Kopfbedeckung Kippa offen zu zeigen. Zu groß sei die Gefahr, angepöbelt oder gar attackiert zu werden.

Verbotene Hakenkreuze hinter Polizeiabsperrung am Wiener Zentralfriedhof.
Antisemitischer Brandanschlag auf jüdischem Teil des Wiener Zentralfriedhofs.
APA/GEORG HOCHMUTH

Neu ist die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden in Österreich freilich nicht: Die Antisemitismusmeldestelle der IKG registrierte schon 2022, also fast ein Jahr vor der jüngsten Eskalation, einen traurigen Rekord an juden- und jüdinnenfeindlichen Übergriffen in Österreich. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem darauffolgenden Militäreinsatz in Gaza marschieren aber nun auch in Österreich Demonstrierende mit teils offen antisemitischen Parolen durch die Straßen; viele, aber weit nicht alle, mit muslimischem Migrationshintergrund. Nicht nur an US-Unis, sondern auch hierzulande werden seit Kriegsbeginn Studierende angefeindet, weil sie Jüdinnen oder Juden sind – oder sich mit Israel solidarisch zeigen. Auch die deutschen Behörden meldeten Ende 2023 massiv gestiegene Zahlen, was antisemitische Straftaten betrifft.

Andererseits werden, etwa in Onlineforen, eine Verrohung der Sprache und antimuslimischer Rassismus deutlich: Tote Zivilisten in Gaza werden häufig als "Kollateralschaden" abgetan, Palästinenserinnen und Palästinensern ihr Recht auf Leben abgesprochen. Jenen, die sich mit Gewaltopfern solidarisieren, wird oft Einseitigkeit vorgeworfen. Der Diskurs über den Krieg, er ist vergiftet. (Flora Mory, Florian Niederndorfer, 14.1.2024)