Füße schauen unter einer Bettdecke hervor
Gemeinsam unter einer Decke liegen. Nicht mehr, nicht weniger. Was daraus entsteht, bleibt offen.
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Sie schleicht sich irgendwie ein, die Sexlosigkeit. In der Anfangszeit, wenn man noch frisch verliebt ist, haben Paare meist ohne Probleme viel Sex. Laut Statistiken schlafen heterosexuelle Paare aber bereits nach vier Jahren siebenmal seltener miteinander als zu Beginn. Ein Problem?

Nicht unbedingt, sagt Nicole Siller. Die Sexualberaterin weiß aber aus der Arbeit mit Paaren, dass zu wenig oder langweiliger Sex zu Frust innerhalb der Partnerschaft führen und diese damit bedrohen kann. Siller gibt Tipps, was man gegen eine Sexflaute machen kann, wie man sein Gegenüber neu kennenlernen und Leidenschaft und Erregung in eine eingeschlafene Beziehung bringt.

STANDARD: Je länger die Beziehung dauert, desto weniger und schlechter wird der Sex in Beziehungen. Warum passiert das?

Siller: Forscherinnen gehen davon aus, dass Sex zu Beginn einer Beziehung vor allem dazu dient, Intimität und Stabilität zu erzeugen. Irgendwann hat man als Paar klarerweise einen Nähelevel erreicht, bei dem Sex als Bindemittel nicht mehr nötig ist. Ist die anfängliche Verliebtheit vorbei, lässt auch die sexuelle Anziehung nach und andere Prioritäten treten in den Vordergrund der Beziehung. Vielleicht hat man gerade ein Kind bekommen, baut ein Haus oder macht Karriere. Fast alle Paare haben Phasen, in denen Sex nicht so wichtig ist. Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die über die Jahre mehr Nähe und Intimität zum Partner oder zur Partnerin aufbauen und sich erst dadurch ihre Sexualität in die Tiefe entwickelt.

STANDARD: Wann wird Sexlosigkeit ein Problem?

Siller: Wenn einer oder beide unzufrieden damit sind, aber nichts dagegen tun.

STANDARD: Auch wenn es viele als Grund angeben, aber fehlende Zeit ist ja meistens nicht das Problem, oder?

Siller: In der Theorie muss Sex ja nicht lange dauern, und in der Theorie hat jedes Paar zumindest eine halbe Stunde wöchentlich dafür Zeit. Es geht vielmehr um die mentale Kapazität. Viele brauchen für Intimität einen freien Kopf, müssen sich entspannen können. Gerade die Erwartungshaltung an Sex spielt dabei eine Rolle. Wenn ich mir vorstelle, dass Sex immer bombastisch und großartig sein muss, dann macht man sich selbst Druck und bekommt das Gefühl, dass man dafür gerade keine Zeit hat.

STANDARD: Vielleicht würde es auch schon reichen, wenn man wieder mehr kuschelt und schmust?

Siller: Frauen brauchen meist etwas mehr Vorbereitung, um überhaupt in eine lustvolle Stimmung zu kommen. Da kann Küssen wunderbar helfen. Nerven, Muskeln und Faszienstränge von Kiefer und Mund sind unmittelbar mit dem Beckenboden verbunden. Beim Küssen werden Wohlfühl- und Glückhormone wie Dopamin und Oxytocin ausgeschüttet, die sexuell erregen, die Vagina befeuchten und Stress abbauen.

STANDARD: Und sich einfach nur küssen kostet vielleicht weniger Überwindung, als Sex zu haben.

Siller: Da sind wir bei einem wichtigen Punkt! Viele Frauen sagen in meiner Praxis Sätze wie "Ich mag schon gar keinen Körperkontakt mehr haben, weil ich das Gefühl habe, es muss Sex geben". Das ist fatal, weil es zu einer weiteren Distanzierung in der Beziehung führt. Ich rate Paaren, zwischendurch beim Spazieren oder beim Abendessen offen über ihre sexuellen Wünsche zu sprechen: "Du, ich würde gerne öfters mit dir kuscheln oder dich einmal wieder küssen, aber ich weiß nicht, ob ich Sex will." Das nimmt den Druck heraus und lässt Intimität wieder besser zu.

STANDARD: Sagt der Sex in der Beziehung viel über die allgemeine Qualität der Beziehung aus?

Siller: Nein, gar nicht. Ich kenne ganz viele Paare, die eine schöne Beziehung haben, die Sexualität aber nicht wichtig ist. Die kommen dann zu mir und fragen sich, ob etwas mit ihnen nicht stimmt. Dabei lieben sie sich innig, sie haben gemeinsame Visionen oder Hobbys.

STANDARD: Was sind die Folgen, wenn einer mehr Sex will als der andere?

Siller: In einer Beziehung sind das meist sehr eingefahrene Rollen. Der eine will unbedingt Sex, der andere nicht. Je länger man in dieser Rolle steckt, desto schwieriger kommt man auch wieder heraus. Vermeidungsverhalten und Druck sind die Folge. Das führt häufig zu Streit und Anschuldigungen in der Beziehung. Deswegen spreche ich bei Paaren, die vor diesem Problem stehen, gerne ein generelles Sexverbot aus.

STANDARD: Warum das?

Siller: Damit sich die Schuldfrage auflöst. Wenn ich als dritte, unabhängige Person ein Verbot erteile, braucht es derjenige, der ständig Sex will, erst gar nicht versuchen – und holt sich auch keine Abfuhr. Und derjenige, der nie Sex will, hat keinen Druck und bekommt die Chance, auch einmal wieder selbst aktiv zu werden.

STANDARD: Und das funktioniert?

Siller: Ja, sehr gut sogar. Einmal war ein Paar bei mir, das seit zwei Jahren keinen Sex mehr hatte. Sie haben schon die Beziehung infrage gestellt deswegen. Denen habe ich drei Monate Sexverbot erteilt. Bei der nächsten Sitzung haben sie erzählt, dass sie direkt nach der Sitzung Sex hatten.

STANDARD: Welche Rolle spielt denn der Orgasmus bei gutem Sex?

Siller: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Viele haben deswegen im Kopf: Guter Sex endet in einem Orgasmus. Fakt ist aber, dass nur etwa zwei Drittel aller Frauen beim Sex mit einem Mann den Höhepunkt erreicht. Bei der Selbstbefriedigung sind es deutlich mehr. Viele Frauen sagen, sie können guten Sex auch ohne Orgasmus haben. Ihnen ist etwa Zärtlichkeit und Erregung wichtiger. In der Praxis habe ich aber auch Frauen, die beim Sex noch nie einen Orgasmus hatten und deswegen unglücklich sind.

STANDARD: Du bietest spezielle Kurse an, in denen Frauen lernen, wieder in ihre sexuelle Lust zu finden. Wie läuft das ab?

Siller: In den Online-Kursen arbeiten wir als Gruppe, reden, reflektieren, und es gibt viele Anregungen und Impulse. Die Frauen sind alle sehr unterschiedlich und haben unterschiedliche Ziele. Die jüngste Teilnehmerin war 22 Jahre, die älteste 73 Jahre alt. Viele merken, dass sie beim Sex Dinge tun, die sie gar nicht tun möchten. Andere haben keine sexuelle Lust mehr. Einige sind Single und wünschen sich eine Ausstrahlung, um endlich gesehen zu werden. Und ein paar sind junge Mütter, die sich als Frau komplett verloren haben. Ziel ist, eine sexuell erwachsene Frau zu werden.

STANDARD: Diesen Begriff findet man in deinen Büchern und Podcasts auch immer. Was meinst du mit "sexuell erwachsen"?

Siller: Das ist eine Frau, die sich gut kennt, für ihre sexuellen Wünsche einsteht, die ihre Sexualität selbst gestaltet. Frauen, die das können, sind meist automatisch selbstbewusster. Nicht nur beim Sex, sondern auch in anderen Lebenslagen – und das strahlen sie auch aus.

STANDARD: Ist Masturbation eine Möglichkeit, um sich in der eigenen Sexualität weiterzuentwickeln?

Siller: Ich bin ein Fan von Solosex. Es ist eine gute Möglichkeit, um den eigenen Körper zu spüren. Gerade Frauen können bei der Masturbation gut in sich hineinfühlen und sich fragen, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Wenn Männer sehr häufig masturbieren, kann es passieren, dass sie den Sex mit einer Frau gar nicht mehr richtig genießen, weil der Penis den Druck von der Hand gewöhnt ist. Da muss man auch aufpassen.

STANDARD: Wenn es mit dem Sex nicht so gut läuft, ist es dann manchmal sinnvoll, die Beziehung zu öffnen oder Affären zu erlauben?

Siller: Wenn die Beziehung sehr stabil ist und man weiß, dass man auf jeden Fall zusammenbleibt, kann das funktionieren. Dafür muss es aber klare Regeln geben, etwa ob man darüber spricht oder nicht. Wichtig ist, dass man zeitnah und gemeinsam darüber reflektiert, ob es der Beziehung wirklich guttut oder nicht. Und es muss immer die Möglichkeit geben, wieder zurückzurudern. Man muss sagen dürfen: "Das will ich doch nicht."

STANDARD: Ist dieses "Neues ausprobieren" oft der Schlüssel für mehr oder besseren Sex?

Siller: Ja. Das ist auch der Grund für Affären. Die Psychotherapeutin Esther Perel schreibt in ihren Büchern, dass die meisten Menschen Affären haben, weil sie sich selbst wieder lebendig fühlen wollen, nicht weil die Beziehung schlecht ist. Nur, man kann ja auch mit dem Partner gemeinsam Neues ausprobieren. Man muss sich halt trauen, offen darüber zu sprechen.

STANDARD: Genau das fällt aber vielen schwer …

Siller: Wenn es schwerfällt, kann das Paar etwa drei sexuelle Fantasien oder Wünsche auf einen Zettel schreiben. Dann zieht man einen Zettel und spricht darüber. Man muss es dann noch lange nicht machen, aber es kann total anregend sein. (Nadja Kupsa, 11.1.2024)