Der mörderische Überfall der terroristischen Hamas auf Israel am 7. Oktober hat eine neue düstere Phase in der Geschichte Israels, des Judentums und des Antisemitismus eröffnet. Trotz der grauenvollen Details über die von Terroristen an Zivilisten begangenen Verbrechen – 1.200 Tote, 250 entführte Geiseln, enthauptete Kinder, Hinrichtungen vergewaltigter Frauen, Abschlachtung ganzer Familien – dauerte die internationale Solidarität mit Israel nur kurz.

Die pessimistische Wertung des französischen Philosophen Alain Finkielkraut in der NZZ dürfte stimmen: "Der 7. Oktober wird wie der Eintrag in einer Buchhaltung behandelt, weil die israelischen Bombardements und Angriffe in Gaza viel mehr Tote gefordert haben. Viele Menschen verstehen nicht mehr, was Krieg ist. Sie wollen von der tödlichen Taktik der Hamas nichts mehr hören." Das angesehene jüdische Mitglied der französischen Akademie fügte hinzu: "Tatsächlich kümmert sich die Hamas nicht um ihre eigene Bevölkerung. Sie wird absichtlich in Gefahr gebracht, weil die Hamas von toten Zivilisten profitiert. Sie positioniert ihre Waffen, ihre Abschussrampen, ihre Munitionsvorräte in Schulen, Kindergärten und Spitälern (…). Die humanitären Organisationen, die heute gegen Israel hetzen, verlieren kein Wort, um das Verhalten der Hamas anzuprangern."

Eine Installation am Ort des Supernova-Festivals erinnert an die Opfer und Geiseln des 7. Oktober.
AFP/JACK GUEZ

Trotz der scharfen internationalen Kritik und der Massendemonstrationen will Premier Benjamin Netanjahu den "vollständigen Sieg: die Beseitigung der Hamas, die Befreiung aller Geiseln und die Gewährleistung, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellen wird". Israel sei aber laut der Tageszeitung Haaretz noch weit vom Erreichen dieser Kriegsziele entfernt. Mit jedem weiteren Tag der verheerenden Bombardierungen und Bodenangriffe im zerstörten Gazastreifen (laut unüberprüfbaren Angaben der Hamas) mit 23.000 Todesopfern werden weltweit die antisemitischen Zwischenfälle gewalttätiger.

Netanjahus jüngster Ausruf – "Niemand wird uns stoppen!"– ist auch eine Hiobsbotschaft für die US-amerikanischen Regierung. Immer mehr Wähler der Demokraten kritisieren Präsident Joe Biden wegen seiner Unterstützung für Israel. Bereits 44 Prozent der Befragten in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen und sogar 67 Prozent in der Gruppe zwischen 18 und 24 Jahren bejahen die antisemitische Behauptung: "Die Juden als Klasse sind Unterdrücker." Der New York Times-Kolumnist Bret Stephens sieht angesichts der sprunghaften Steigerung des Judenhasses und mit Blick auf die Erfahrungen Weimar-Deutschlands sogar die Gefahr des jähen Absturzes für die US-amerikanischen Juden, die derzeit sowohl den Außen-, den Finanz- und den Sicherheitsminister sowie den demokratischen Fraktionschef im Senat und den Kabinettschef des Präsidenten stellen, "von Zenit in den Abgrund".

Inzwischen wächst die Angst vor einem regionalen Großbrand. Israel wird auch aus Libanon, Syrien, Jemen, Iran, Irak und in der besetzten Westbank angegriffen. In Israel selbst fordern immer mehr Menschen bei regierungsfeindlichen Demonstrationen eine Feuerpause und Verhandlungen, um die rund 150 Geiseln zu retten, die sich noch in der Hand der Hamas befinden. (Paul Lendvai, 15.1.2024)