Eine Frau entfernt ihren Ehering. 
Wenn die Obsorge oder das Kontaktrecht nach Trennungen vor Gericht geregelt werden, müssen verschiedenste Formen von Gewalt berücksichtig werden.
IMAGO/imagebroker

Wie können Kinder und von häuslicher Gewalt betroffene Eltern – meist Frauen – in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren besser unterstützt werden? Diese Frage beschäftigt sowohl Kinderschutz- als auch Gewaltschutzeinrichtungen laufend. Vor allem Letztere kritisierten in der Vergangenheit oft, dass Gewalt gegen Mütter bei solchen Verfahren zu wenig berücksichtigt und für das Kind sowie Kontaktrechte als unerheblich eingestuft werde. Nun hat das Justizministerium einen Leitfaden für Richter:innen der Familiengerichte, für die Familiengerichtshilfe und für Fachkräfte im Bereich des Kinderschutzes vorgelegt, der Verbesserungen bringen soll.

Der Leitfaden wurde in Zusammenarbeit mit einer interdisziplinären Arbeitsgruppe erstellt und fokussiert vor allem darauf, was im Falle von Gewalt bei Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren besonders zu berücksichtigen ist. Damit sollen bisher stark präsente Haltungen bei solchen Verfahren hinterfragt und die Vorstellungen, was alles Gewalt ist, erweitert werden.

Patricia Hofmann ist als Anwältin auch in der juristischen Prozessbegleitung tätig und kennt Fälle von Gewalt innerhalb der Familie gut. Prozessbegleitung können all jene in Anspruch nehmen, die Opfer von Gewalt wurden und Unterstützung bei gerichtlichen Verfahren brauchen (DER STANDARD berichtete). Hofmanns Eindruck des Leitfadens ist positiv. Besonders wichtig sei daran, dass auch die miterlebte Gewalt stark in den Fokus gerückt werde, sagt sie auf Nachfrage des STANDARD.

Gewalt "nur" gegen die Mutter

Der Leitfaden beginnt mit Definitionen von Gewalt, die über physische Gewalt hinausgehen. Neben der Definition, was physische Gewalt umfasst (zum Beispiel neben Prügel auch Festhalten, eine "Ohrfeige", ein "Klaps" oder "Unter-die-kalte-Dusche-Stellen"), gibt es auch eine genaue Auflistung von Formen von psychischer Gewalt, Vernachlässigung, sexualisierter Gewalt und ökonomischer Gewalt. Letzteres kann etwa das Vorenthalten von Unterhaltszahlungen oder die Wegnahme von Taschengeld oder Ersparnissen des Kindes sein. Zur psychischen Gewalt gehören auch Abwertungen des anderen Elternteils, Beschämungen des Kindes oder ständige Kritik und wenn Kinder Gewalt miterleben müssen.

Miterlebte Gewalt wird im Leitfaden zur psychischen Gewalt gezählt und zusätzlich auch nochmals extra behandelt. „Ein Zuhause ist bei miterlebter Gewalt kein sicherer Ort mehr", heißt es in dem Leitfaden. Kinder fühlen sich für das Wohlergehen der Eltern verantwortlich und geben sich häufig die Schuld für die Situation, heißt es weiter. Gewaltschutzeinrichtungen haben in Vergangenheit oft kritisiert, dass Gewalt "nur" gegen die Mutter in Obsorgeverfahren zu wenig Berücksichtigung finden würde. „Letztlich muss jeder Einzelfall genau angesehen werden, aber dass die Folgen von miterlebter Gewalt für Kinder und die Berücksichtigung von früherer Gewalt nun in dem Leitfaden ausdrücklich hervorgehoben werden, hält Hofmann für besonders wichtig.

Ebenfalls zu psychischer Gewalt zählt, wenn einem Kind das Kontaktrecht zu dem anderen Elternteil verwehrt wird und in ihm so Loyalitätskonflikte ausgelöst werden. Auch das "Vorschreiben nicht zeitgemäßer (patriarchaler) und Verhaltensvorschriften" wird als Form von psychischer Gewalt aufgelistet. In all den Fällen von direkter und indirekter Gewalt sollen bisherige Grundsätze oder Haltungen für familiengerichtliche Verfahren nicht mehr gültig sein, heißt es in dem Leitfaden. Etwa, dass grundsätzlich der Kontakt zu beiden Eltern dem Kindeswohl entspricht.

Blick in die Zukunft reicht nicht

Ebenso werde in Verfahren vor allem auf die Zukunft fokussiert und passierte Gewalt in der Vergangenheit wenig thematisiert. "Die Haltung, reden wir nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft, gibt es tatsächlich immer wieder bei Pflegschaftsverfahren", sagt Hofmann. Der Leitfaden betont nun, dass es wichtig ist, die passierte Gewalt nicht als "vorbei" abzutun. Denn dies könnte dazu führen, dass sich die Gewalt wiederholt und das Kind das Erlebte nicht aufarbeiten kann. "Es braucht die Anerkennung dessen, was passiert ist und was zu der aktuellen Situation geführt hat", heißt es in dem Leitfaden.

Im Leitfaden wird auch festgehalten, dass in Fällen von Gewalt der Grundsatz nicht gelte, dass es immer das Beste für das Kind sei, wenn sich die Eltern über das weitere Vorgehen einig sind. "Wenn die Eltern sich einigen, ist das Gericht bislang häufig auch von einer Einvernehmlichkeit ausgegangen", sagt Hofmann. Doch diese Einvernehmlichkeit müsse nicht bedeuten, dass das sie beste Lösung für das Kind sei. "Es gibt Fälle, wo der gewaltbetroffene Elternteil aus Angst zu etwas zustimmt, um der Situation zu entkommen, und im Grunde gar keine Einvernehmlichkeit vorhanden ist", erklärt Hofmann, die den Leitfaden als wichtigen Schritt in die richtige Richtung und für eine breitere Perspektive auf das Kindeswohl und Gewaltschutz einstuft. (Beate Hausbichler, 22.1.2024)