Emma Stone trägt als ungebändigte Bella Baxter
Emma Stone trägt als ungebändigte Bella Baxter "Poor Things" auf ihren schön kostümierten Schultern.
Disney/Searchlight Pictures

Ein verrückter Wissenschafter findet eine ertrunkene Schwangere und setzt ihr das Hirn ihres Säuglings ein. Obwohl die Prämisse zu Yorgos Lanthimos' Film Poor Things wie ein Albtraum klingt, hat das seinem Ansehen bislang kaum geschadet. In Venedig und bei den Golden Globes wurde der Film schon ausgezeichnet, ebenso wie seine Hauptdarstellerin, die zu Recht gefeiert wird.

Lanthimos' Alter Ego: "God"

Emma Stone spielt Bella, die neugeborene Frau mit dem Kindskopf. Godwin Baxter (Willem Dafoe), kurz God, ist ihr Retter und Experimentator. Mit God hat sich Lanthimos ein ebenso größenwahnsinniges wie sympathisches Alter Ego geschaffen. Denn der 50-jährige, aus Athen stammende Regisseur, der als Begründer des "weird greek cinemas" gilt, ist dem Experimentieren mit Körpern, Formen, Farben und allem, was das Medium Film noch so hergibt, äußerst zugetan.

Seitdem sein Durchbruch Dogtooth – in dem drei eingesperrte Teenager auf die eigenartigste Art und Weise gegen die Eltern rebellieren – 2011 überraschend für einen Oscar nominiert wurde, ist der Grieche international begehrt. Doch seine erste Filmidee für ausländische Produzenten, eine Verfilmung von Alasdair Grays Frankenstein-Persiflage Poor Things, stieß damals noch auf taube Ohren. Das war dann doch zu "weird".

Ein Fest für die Sinne

Stattdessen drehte Lanthimos in England The Lobster und The Killing of a Sacred Deer mit Colin Farrell, Nicole Kidman und dem derzeit gehypten Barry Keoghan (Saltburn) und gewann so eine treue Anhängerschaft. 2018 folgte The Favourite mit Rachel Weisz, Emma Stone und Olivia Colman. Letztere gewann einen Oscar für das gefeierte, fast ausschließlich mit Fischauge-Objektiv gefilmte Kammerspiel.

Das Fischauge, die viktorianischen Kostüme und Stone nahm Lanthimos mit in Poor Things, doch die beengte Kammer, ditto Godwin Baxters Haus, wird dem Film bald zu eng.

Sobald das passiert, öffnet sich dem Publikum einen fantastische, in den giftigsten Farben schillernde Steampunk-Welt, die nur auf dem Papier Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist: Petroleumgrün, Chromblau, Eitergelb und Scharlachrot treffen in extravaganten Set- und Kostümdesigns aufeinander und mischen sich unter die wohltemperierten Dissonanzen des grandiosen Soundtracks. Kurzum: Poor Things ist ein Fest für die Sinne.

Voller Entdeckungsdrang: Bella in Lissabon.
Voller Entdeckungsdrang: Bella in Lissabon.
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Männerfantasie? Jein

Auch Bella – nun wohl mit der Hirnreife eines Teenagers ausgestattet – hat so große Freude am Sinnlichen, dass sie mit dem schmierigen Anwalt Duncan Wedderburn (toll: Mark Ruffalo) durchbrennt. Mit ihm "springt sie wild herum" (damit meint sie Sex) und entdeckt furchtlos neugierig die Welt.

Poor Things | Official Trailer | Searchlight Pictures
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Angesichts des federführenden Personals von Poor Things kann man nicht umhin zu bemerken: Es ist eine Männerfantasie. Autor Alasdair Gray stellte das 1992 in seinem Buch schonungslos aus. Bellas Geschichte ist aus Perspektive ihres späteren Ehemanns Max McCandles geschrieben. Eine Perspektive, die Bella in einem Brief an ihre Nachkommen am Ende des Buches von sich weist.

Lanthimos und sein Drehbuchautor Tony McNamara versetzen stattdessen die Perspektive. Im Film erzählt Bella selbstbestimmt ihre Geschichte. Und dass Bella Baxter, die Lanthimos übrigens einem Schiele-Gemälde nachempfunden hat, weder devote Kindsfrau noch Fetischobjekt ist, räumt Hauptdarstellerin Emma Stone mit einem Streich aus der Welt.

Prostituierte, Sozialistin und Forscherin

So verschlägt es Bella eben nicht nur ins Bett Wedderburns, sondern auch in ein gelb leuchtendes, von Luftfahrtschiffen belebtes Lissabon, wo eine Fado-Sängerin sie zu Tränen rührt und sie die Mehlspeisen zum Speiben bringen.

Danach geht es auf ihrer Expedition auf einem Schiff nach Alexandria, wo Bella, inspiriert von zwei neu gewonnenen Freunden (darunter Hanna Schygulla), erstmals mit menschlichem Elend und Philosophie konfrontiert wird. Zur Sozialistin wird sie schließlich in Paris, wo sie ein Doppelleben als Prostituierte und Studentin führt.

Hanna Schygulla als schelmische Witwe in
Hanna Schygulla als schelmische Witwe und Schiffspassagierin in "Poor Things".
Atsushi Nishijima

Nachdem viele Gedanken durch ihr mittlerweile reifes Gehirn und viele Menschen durch ihr Bett gewandert sind, kehrt Bella zurück auf die Kanalinsel, wo Godwin ebenso auf sie wartet wie ihr Verlobter, um sie endlich zu heiraten.

Ende gut, alles gut? Nicht wirklich. Ein letzter Befreiungsakt steht Bella noch bevor, ehe sie sich mit ihren Vertrauten in ein Idyll aus chirurgisch zusammengebastelten Fabelwesen zurückziehen und sich, gemeinsam mit ihrem freundlichen Ehemann Max, der Forschung widmen kann. (Valerie Dirk, 18.1.2024)