Elias Hirschl
Taucht in seinem neuen Roman in die Welt von Listicles, ChatGPT und Youtube ein:der Wiener Autor, Musiker und Slam-Poet Elias Hirschl.
Petra Weixelbraun

Ein Listicle ist im Allgemeinen eine Auflistung von Fakten oder Tipps, meist mit einem Clickbait-Titel in der Form: Die Zahlwort Adjektiv Nomen, durch die du etwas Nützliches erfahren wirst! ?– Nummer 7 ist besonders herausragend! Die 7 besten Zwerge, die hinter einer erstaunlichen Anzahl an Bergen wohnen!? – Nummer 7 hat einen lustigen Namen!

Da ein Listicle in der Regel um die zehn Teile hat, erwähnt man meistens die Nummer 7 als spezielles Element, weil sie weiter hinten im Text liegt, sodass man fast den ganzen Artikel durchstöbern muss, um zur verheißenen Nummer vorzudringen. Zudem haftet der Zahl 7 von Natur aus eine Magie an, die dem Artikel das gewisse Etwas verleiht.

Karin ist die beste im Listicle-Schreiben. Während ich mich in den ersten Wochen mit meinen Artikeln abplage, sitzt sie neben mir mit angewinkelten Beinen auf ihrem Drehstuhl, einen Fidget Spinner in der linken Hand, eine Tasse Kaffee vor sich auf dem chaotischen Schreibtisch, während sie mit rechts ihre Texte runterschreibt, ohne einen Blick auf die Tastatur zu werfen. Ein klassischer Karin-Trick ist zum Beispiel, die Reihenfolge der Liste durcheinanderzubringen. Manchmal dreht sie sie um, durchmischt sie komplett oder wiederholt mehrmals die gleiche Zahl, nur damit die Leute die Artikel aus purer Verwirrung teilen. Manchmal schreibt sie auch Dinge wie Die 3 besten Arten, seinen Tod vorzutäuschen?– Nummer 7 ist nicht in dieser Liste enthalten! Dieses absichtliche Einstreuen von Fehlern, Widersprüchen oder surrealen Momenten ist eine ihrer Spezialitäten, mit denen sie die ganze Sparte revolutionierte.

11 großartige Tipps, dein Leben in den Griff zu kriegen! Nummer 7 wird dich überraschen!

1. Räum dein Zimmer auf! Ein aufgeräumter Geist wohnt in einer aufgeräumten Wohnung!

2. Lass genug Raum für kreatives Chaos! Verstreu deine Arbeitsutensilien quer über das Wohnzimmer, so hat Einstein auch gearbeitet!

3. Schreib ein Manifest, verteile es unter den Studenten, zettle eine blutige Revolution an, bring die Guillotine wieder in Mode, ändere deinen Namen und wandere nach Belize aus, bevor es brenzlig wird, Fun, Fun, Fun!

4. Beende dein 11-Punkte-Listicle bei Punkt 4, lol, Nummer 7 gibt es nicht, Überraschung!

Karin sagt, sie wolle damit eine Philosophie in die Welt tragen, eine Botschaft, dass es keine letztgültige Wahrheit gibt, dass alles mindestens zwei Seiten hat, dass es keine simplen Lösungsansätze für die komplexen Probleme unserer unübersichtlichen Zeit geben kann. Zugegeben, da nimmt sie den Mund etwas voll für jemanden, der vierzig bis fünfzig Listen über die besten Digimon-Fusionen der dritten Generation geschrieben hat, aber wenn man dem eigenen Tun nicht wenigstens ein Minimum an Sinn andichtet, dreht man früher oder später komplett durch. Wie Gandhi schon sagte: Monotonie erzeugt Kontemplation, und Kontemplation erzeugt Aberglaube, und Aberglaube erzeugt Wahnsinn. Das hat Gandhi natürlich nie gesagt, aber nachrecherchieren lässt sich so was auch nicht. 96?Prozent aller inspirierenden Zitate im Internet sind frei erfunden. Zumindest steht das in einer von Karins Listen.

Schockierende Nummer 7

Das Einzige, was sich als roter Faden durch all ihre Listen zieht, ist der Verweis auf die Nummer 7, die dich schockiert, überrascht und zum Weinen bringt. In jeder anderen Firma wäre Karin mit ihrem Talent binnen kürzester Zeit die Karriereleiter aufgestiegen. Aber bei Smile Smile gibt es keine Leitern.

Smile Smile Lists gehört zusammen mit Smile Smile Fun Videos und Smile Smile Memes zur Smile Smile Inc., einer 2009 gegründeten Firma mit Sitz in Larnaka, Zypern. Darüber steht höchstwahrscheinlich ein russischer Mutterkonzern, da wird die Sachlage aber etwas undurchsichtig. Die Standorte der Firma sind über ganz Europa verteilt. Smile Smile gehören dutzende Listicle-Outlets und Online-Zeitschriften, ebenso viele Instagram-, Facebook-, Twitter- und Tiktok-Accounts. Zudem betreibt die Firma vier der zehn erfolgreichsten Youtube-Kanäle, die sich hauptsächlich mit Do-it-yourself-Kochrezepten und Bastelanleitungen, Fetischen, ASMR, Lo-Fi-Hip-Hop-Beats to study or relax to und dem unterhaltsamen Zerstören von teurem Privateigentum beschäftigen. Die Büros sind recht chaotisch organisiert, sodass die Listicle-Schreiberlinge oft mit den Video- und Meme-Departments im selben Raum sitzen, ohne zu wissen, wofür die anderen zuständig sind.

500 Videos, 2000 Listicles

Während ich die Top 15 der tödlichsten Flugzeugabstürze zusammenfasse, filmt sich Marta hinter mir, wie sie sich mit Klebstoff die Zähne putzt. Während ich die Top 7 der grusligsten iranischen Volksmärchen aufliste, macht Yusuf ein Close-up-Video davon, wie er sich lasziv stöhnend eine Glatze rasiert. Cory filmt eine Wassermelone in der Mikrowelle, eine Orange in der Mikrowelle, ein Nokia 3310 in der Mikrowelle, ein iPad in der Mikrowelle, eine kleinere Mikrowelle in einer größeren Mikrowelle. Marta filmt eine Hydraulikpresse, die eine Mikrowelle zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine Champagnerflasche zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine ganze Champagnerpyramide zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die ein Nokia?3310 zerquetscht, eine Hydraulikpresse, die eine andere Hydraulikpresse zerquetscht. Smile Smile zerstört inzwischen so viele Nokias 3310, dass Nokia beschlossen hat, eine Neuauflage davon produzieren zu lassen, nur um sie direkt in die Vernichtung zu schicken.

Der Konzern veröffentlicht wöchentlich um die 500 neuen Videos, 2000 neue Listicles und ebenso viele Memes auf diversen Youtube-Kanälen, Websites und Social-Media-Accounts. Ich schreibe meine Listenartikel, bekomme mein Gehalt von einer obskuren osteuropäischen Bank überwiesen und stelle keine Fragen. Ich lebe mich ein. Ich finde mich ab.

Religiöser Wahn

Ich mache die Smile Smile-Entwicklung durch, wie Marta es nennt. Jeder, der hier anfängt, durchlebt eine Reihe von Phasen. In den ersten ein bis zwei Monaten überkommt einen eine Depression darüber, seine hochgestochenen Träume vom Künstlerdasein aufgegeben zu haben. Dann folgt irgendwann aber ein überraschender Energieschub, wenn man merkt, dass man selbst in der dümmsten, monotonsten Arbeit immer noch eine Form von Selbsterfüllung finden kann. Bei manchen führt diese Sinnlosigkeit aber auch in die totale nihilistische Lebensverweigerung oder in eine Art religiösen Wahn, wie es schließlich auch bei Karin der Fall ist.

Ich kann ihren Verfall in Echtzeit beobachten, während ich neben ihr arbeite. Es beginnt damit, dass ihre Themen immer drastischer und seltsamer werden. Die 18 besten Alibis bei Fahrerflucht. 9 Methoden, effektiv eine Leiche zu entsorgen. Die 12 besten Jeff Goldblums?– Nummer 7 ist Jeff Goldblum! Nach einiger Zeit bemerke ich an ihr jedoch eine tiefgreifendere Persönlichkeitsveränderung. Karin ist der Meinung, sie könne mit ihren Listen die Welt verändern, sie könne subliminale Botschaften nach draußen schicken, die sich unbewusst in den Köpfen der Menschen verankern und so zu einem nachhaltigen Wandel in der Gesellschaft beitragen. Sie beginnt damit, versteckte Botschaften in ihre Listen einzubauen, in den Anfangsbuchstaben jedes Wortes, in den Anfangswörtern jedes Satzes, manchmal auch etwas weniger subtil mit konkreten Aufrufen zu Gewalt und Umsturz. Der einzige Grund, warum Karin noch nicht unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz steht, ist, dass es keiner ihrer Texte je nach draußen geschafft hat.

Elias Hirschl, "Content". € 24,50 / 224 Seiten. Zsolnay, Wien 2024.
Zsolnay

Zielgruppenrelevanz

Die Smile Smile-Artikel werden nicht direkt veröffentlicht, sondern durchlaufen eine Reihe von Bearbeitungs- und Prüfverfahren. Auf der ersten Ebene werden die Texte an das hausinterne Grafikbüro geschickt, wo zu jedem der Listicle-Punkte ein unterhaltsames Stock-Foto eingefügt wird. Die illustrierten Artikel werden dann an die PR-Abteilung weitergeleitet, wo der Inhalt auf Massentauglichkeit, Zielgruppenrelevanz und Shareability geprüft wird, bevor er dann an die interne Prüfstelle weitergeleitet wird, wo je nach Bedarf rechtlich bedenkliche Inhalte ausgefiltert oder hinzugefügt werden. In einem finalen Überarbeitungsprozess eines weiteren Grafikbüros werden schließlich die Stock-Fotos ausgetauscht, sodass sie zum neuen Text passen. Das Endprodukt hat keinen Überschneidungspunkt mehr mit dem ursprünglichen Text. Die Wahrheit ist, dass kein einziges Wort, das ich oder Karin oder irgendjemand anderer aus unserer Abteilung schreibt, jemals veröffentlicht worden ist.

Bei mir hat es etwa ein halbes Jahr gedauert, bis ich mich mit dieser Sinnlosigkeit abgefunden habe. Karin hingegen scheint es auch jetzt nach knapp drei Jahren noch nicht einsehen zu wollen. Zuerst redet sie sich ein, dass das Korrektorat gar nicht so viel umstreichen würde, dass die Essenz ihres Textes erhalten bleibt, auch wenn sich die Formulierungen verändert haben. Als sie irgendwann einsieht, dass von ihren Texten absolut nichts mehr übrig bleibt, erklärt sie mir, dass sie dennoch mit ihrer Wortwahl die Arbeit der Zensoren und Grafiker beeinflussen könne und indirekt, quasi in homöopathischen Dosen, auch die Gesellschaft verändern werde. Ihre Wörter, die das Korrektorat allesamt ausfiltere, hinterlassen Erinnerungsspuren im Text. Der Text würde nicht so aussehen, wie er jetzt aussieht, hätte sie nicht geschrieben, was sie geschrieben hat. Ein kleines Stück ihrer Arbeit steckt immer noch im Endprodukt. Ihr Genie, ihr Herzblut sind noch irgendwo da draußen. Sie stecke immer noch als Leerstelle in jedem der publizierten Smile Smile -Artikel, als Essenz, als Seele des Textes, als Nummer 7.

Ins Leere arbeiten

Lange kann sie diese Fantasie nicht aufrechterhalten. Was sie verrückt macht, ist die Tatsache, dass sie jahrelang dafür bezahlt wurde, Wörter zu schreiben, nur damit sie von jemand anderem gelöscht werden. Wir verdienen unser Geld, indem wir aktiv am Produkt vorbei ins Leere arbeiten. Keine der Listen, die sie mir täglich stolz zeigt, keiner der Texte, die ich für sie testgelesen habe, all die Witze und Geschichten, nichts davon überlebt. Ihre Stimme wird immer kälter. Ihre Stimmung immer ruhiger.

Am Tag, als Karin den Verstand verliert, schreibt sie neun Stunden am Stück, ohne ein einziges Mal vom Bildschirm aufzusehen. Ihre rechte Hand entfernt sich nur ab und zu von der Tastatur, um dem Fidget Spinner in ihrer Linken neuen Schub zu geben. Sie hat fast 500 Listen geschrieben, darunter sogar einige wirklich gute. Ich frage sie mehrmals, ob sie einen Kaffee trinken gehen will, aber sie reagiert auf nichts. Sie hat gerade einen Artikel über die 24 zugekokstesten Nicolas-Cage-Auftritte fertig geschrieben und abgeschickt, wissend, dass der Schauspieler durch einen passenderen ersetzt würde, die Droge ebenfalls, und schließlich das gesamte Thema. Sie erhebt sich von ihrem Drehstuhl, geht ruhigen Schrittes quer durch das Büro zum Video-Department, steuert eine der Hydraulikpressen an, in die Marta gerade eine Mikrowelle eingespannt hat, und steckt ihre rechte Hand im letzten Moment zwischen die Aluminiumabdeckung der Mikrowelle und den unnachgiebig herabfahrenden Edelstahlzylinder, der so widerstandslos durch sie hindurchgleitet, als wäre sie überhaupt nicht da.

Elias Hirschl sorgt in seinem Roman "Content" dafür, dass einem das Lachen im Hals steckenbleibt.
Petra Weixelbraun

Stillstand im Büro

Da ist er: der kurze Moment, in dem alles im Büro stillsteht. So lange, bis die Situation entschärft ist und man den normalen Betrieb wiederaufnehmen kann. So lange, bis der Fidget Spinner in ihrer unversehrten linken Hand aufgehört hat, sich zu drehen, und mit einem leisen Klicken in seine Ruheposition zurückgekehrt ist.

In den darauffolgenden Tagen geht das Video von Karins Unfall viral und löst einen internationalen Streit um Youtubes Ethikrichtlinien aus, der nach einer Woche wieder abflaut. Es ist das bis dato vierterfolgreichste Video der Firma, direkt nach Diana und Paul backen Valentinsherzen mit Senf PRANK.

Als ich Karin einige Wochen später in der Klinik besuche, wirkt sie den Umständen entsprechend stabil. Auf einem kleinen Tisch liegen Blumen, Nikotinkaugummi und eine von allen Kolleginnen und Kollegen unterschriebene Karte. Ich habe einen Plastikkaktus dazugestellt, weil mir nichts anderes eingefallen ist. Karin hat sich eigenständig das Schreiben mit der linken Hand beigebracht, die Wände ihres Zimmers über und über mit krakeligen, schief gesetzten Listen bedeckt und besteht darauf, dass sie korrigiert und gelöscht werden. Die Putzkräfte des Spitals spielen Lektorat. Wenn sie zum Reinigen kommen, erkundigt sie sich immer höflich, ob die Listen länger oder kürzer sein sollen, mehr oder weniger popkulturelle Anspielungen oder Schockfaktoren brauchen und wie sie vom Publikum aufgenommen werden. Ab und zu schreibt sie wirre Gedankenfetzen auf Twitter. Das Handy hat man ihr nicht weggenommen. Sie scheint ein gutes Verhältnis zur Belegschaft und ihren Mitbewohnerinnen zu haben. Einmal die Woche liest sie dem versammelten Flügel einige ihrer Texte vor und erhält durchaus positives Feedback. Alles in allem macht sie keinen schlechten Eindruck. Nur als ich ihr sage, wie sehr ich und die anderen sie im Büro und im Club vermissen würden, fällt ihr Gesichtsausdruck in sich zusammen, und sie spricht kein Wort mehr mit mir, bis ich mich verabschiede. Als ich im Türrahmen stehe, höre ich noch einmal ihre Stimme hinter mir.

Hat dich Nummer 7 zum Weinen gebracht?

Ich überlege.

Ja, Nummer 7 hat mich immer zum Weinen gebracht.

Schön, sagt Karin. Sag Bescheid, wenn ich etwas ändern soll. (Elias Hirschl, 20.1.2024)