Wien – Die zweite Amtszeit von Bundespräsident Alexander Van der Bellen im vergangenen Jahr startete mit einem politischen Versprechen: Sollte FPÖ-Chef Herbert Kickl den ersten Platz bei der Nationalratswahl erreichen, würde das Staatsoberhaupt dem freiheitlichen Politiker nicht automatisch einen Regierungsauftrag erteilen – ob er ihn als Kanzler angeloben würde, blieb offen. In den Umfragen liegen die Freiheitlichen seit über einem Jahr vorn. Der Traum der ersten blauen Kanzlerschaft ist für Kickl zum Greifen nahe. Kann Van der Bellen im Falle eines Wahlsieges tatsächlich Kickl als Kanzler verhindern? Was möglich und wahrscheinlich wäre, in vier Szenarien:

Herbert Kickl bei seiner Angelobung in der Hofburg als Innenminister im Jahr 2017.
Im Dezember 2017 wurde Herbert Kick von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als Innenminister angelobt. Ob Van der Bellen Kickl auch als Kanzler angeloben würde, bleibt offen.
APA/ ROLAND SCHLAGER

1) Van der Bellen erteilt einer anderen Partei den Auftrag

Am realistischsten scheint es, dass Van der Bellen nach der Nationalratswahl – sollte Kickl mit der FPÖ tatsächlich den ersten Platz belegen – und ausführlichen Sondierungsgesprächen den Auftrag zur Regierungsbildung einer anderen Partei erteilt, etwa der zweit- oder drittplatzierten. Laut Bundesverfassung muss der Präsident nämlich nicht der stimmenstärksten Partei den Auftrag erteilen. "In der Verfassung steht nur, dass der Bundespräsident den Kanzler bestellt und dieser wiederum die Minister vorschlägt", erklärt Verfassungsexperte Peter Bußjäger im Gespräch mit dem STANDARD.

Das war im Jahr 2000 auch der Fall, als die SPÖ zwar den ersten Platz belegte, jedoch keine parlamentarische Mehrheit hinter sich vereinen konnte. Mit der Regierungsbildung beauftragt wurde vom damaligen Präsidenten Thomas Klestil schließlich Wolfgang Schüssel (ÖVP), der mit der Volkspartei bei der Wahl im Jahr 1999 den dritten Platz errungen hatte. Das Ergebnis war die erste schwarz-blaue Regierung. Sollte also eine Mehrheit im Parlament an der FPÖ vorbei zustande kommen, könnte auch eine Bundesregierung ohne die stimmenstärkste Partei geformt werden.

Der Haken dabei: Die neue Bundesregierung benötigt eine stabile Mehrheit im Parlament, sonst kommt es zu einem Misstrauensvotum, und Van der Bellen müsste sich erneut Gedanken machen, wen er als Kanzler angelobt. Findet Herbert Kickl also einen Koalitionspartner, der ihn als Kanzler mitträgt, und lassen sich abseits der FPÖ keine Mehrheiten finden, hätte Van der Bellen Schwierigkeiten, Kickl den Auftrag zu verweigern.

2) Blau-Schwarz verhandelt ohne Auftrag, Van der Bellen verweigert

Einigt sich die FPÖ unter Kickl mit einer anderen Partei und fertigt ein Regierungsprogramm aus, brauchen die Freiheitlichen dafür nicht unbedingt den Auftrag des Bundespräsidenten. Parteien können auch "am Auftrag des Präsidenten vorbei verhandeln", betont Bußjäger. Sollte also Van der Bellen etwa den Regierungsbildungsauftrag der SPÖ erteilen, könnten FPÖ und ÖVP trotzdem miteinander verhandeln. Im Endeffekt kann der Bundespräsident zwar jede beliebige Bundesregierung angeloben, realpolitisch muss diese aber im Parlament einem Misstrauensvotum standhalten.

So könnte die Pattsituation entstehen, dass sich FPÖ und ÖVP einig werden und ein fertiges Regierungsprogramm inklusive ausverhandelter Ministerposten vorlegen, aber Van der Bellen diese mögliche Bundesregierung verweigert, weil er Kickl nicht als Kanzler angeloben will. Denn: Eine neue Bundesregierung kann nur dann ins Amt treten, wenn der Präsident sie angelobt – einen Weg am Bundespräsidenten vorbei gibt es nicht. "Der Bundespräsident hat hier eine gewisse Macht und kann eine Regierung auch verweigern. Es entsteht dann eine Hängepartie", sagt Bußjäger. Von einer Staatskrise will Bußjäger in dieser Situation noch nicht sprechen, da die amtierende Regierung so lange im Amt bleibt, bis eine neue Regierung angelobt wurde. Alle Institutionen wären also noch voll funktionsfähig.

Um die Pattsituation zu lösen, müssten alle beteiligten Akteure weiter miteinander verhandeln, sagt Bußjäger. So könnte etwa der Koalitionspartner der FPÖ abspringen und sich "andere Mehrheiten" im Parlament suchen, um doch noch eine stabile Regierung in dieser Situation zu bilden. Möglich wäre aber auch eine Abwahl des Bundespräsidenten, die aber eine Zweidrittelmehrheit und zusätzlich auch noch eine Volksabstimmung bräuchte. "Es wäre äußerst unwahrscheinlich, dass Blau-Schwarz diesen Weg in einer solchen Situation gehen würde, da sie für eine Verfassungsmehrheit vermutlich noch einen dritten Partner im Parlament benötigen würden", betont Bußjäger.

3) Van der Bellen tritt zurück

Löst sich die Pattsituation nicht auf, könnte Van der Bellen auch noch einen anderen Weg gehen, um Kickl nicht als Kanzler anzugeloben: Er könnte als Staatsoberhaupt zurücktreten. In diesem Falle würden vorerst die drei Nationalratspräsidentinnen und -präsidenten die Geschäfte des Bundespräsidenten bis zu einer Neuwahl übernehmen. Aktuell stellen ÖVP und FPÖ je einen Präsidenten im Nationalrat, die SPÖ mit Dores Bures eine Nationalratspräsidentin. "Blau-Schwarz hätte in diesem Kollegium also die Mehrheit und könnte laut Verfassung die Bundesregierung angeloben, auch wenn der Kanzler Kickl heißt", erklärt Bußjäger. In dieser Variante könnte Van der Bellen also Kickl nicht als Kanzler verhindern, sich selbst aber aus der Verantwortung ziehen.

4) Van der Bellen bestellt eine Expertenregierung 

Realpolitisch unwahrscheinlich, verfassungsrechtlich aber möglich wäre, dass Van der Bellen unabhängig vom Wahlergebnis eine Expertenregierung oder ein "Beamtenkabinett" angelobt. "Der Bundespräsident ist in seiner Entscheidung frei, wen er als Bundeskanzler bestellt. Theoretisch könnte das jede beliebige Person in Österreich sein", sagt Bußjäger. Die Regierung bräuchte aber, wie bereits erwähnt, realpolitisch eine Mehrheit im Parlament, sonst könnte sie per Misstrauensvotum abgewählt werden. Nur könnte der Präsident auch seine Macht ausnutzen: "Dieses Spiel kann laut Verfassung unbegrenzt weitergehen. Der Präsident könnte immer wieder dieselbe Regierung angeloben, und das Parlament könnte ihr erneut das Misstrauen aussprechen", sagt der Verfassungsexperte.

In dem Szenario wäre auch möglich, dass Van der Bellen "Neuwahlen erzwingt". Laut Verfassung kann der Bundespräsident nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Nationalrat auflösen – das Staatsoberhaupt könnte also einen Kanzler ins Amt hieven, der wiederum Neuwahlen vorschlägt. Dass Van der Bellen die Macht des Bundespräsidenten derartig ausnutzt, um Kickl zu verhindern, ist laut Bußjäger aber unwahrscheinlich. (Max Stepan, 25.1.2024)