Kleines, blondes Mädchen schreit und weint - der Vater hält es am Schoß
Was ist der Grund für den Wutanfall? Vielleicht hat der Vater beim Kinderlied mitgesungen – ohne zu fragen!
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"Mama, nicht singen!", ruft der Zweijährige. Mama schweigt. Dann dreht er sich wieder zurück zur Musikbox und trällert mit Mickey-Mouse-Stimmchen sein Tschu, tschu, tschu, die Eisenbahn. Uff, Glück gehabt! Wutanfall noch einmal erfolgreich umschifft.

Kommt das Kind in die Autonomiephase, brauchen Eltern starke Nerven. Denn ab etwa zwei Jahren, in der sogenannten Phase der Aggressionsentwicklung, strebt das Kind nach mehr Selbstständigkeit. Es versteht, was es bedeutet, einen eigenen Willen zu haben und diesen auch durchzusetzen. Plötzlich mutieren kleine Engel zu exzentrischen Chefs – und banale Alltagssituationen wie das Einkaufen werden zu Miniaturdramen: Das Kind brüllt, weil es die Schokolade will, der Vater schwitzt, weil er genau weiß, dass ihn alle umstehenden Menschen anstarren.

Alles nur eine Phase

"Keine Sorge, so geht es den meisten Eltern irgendwann einmal", sagt Vivien Kain. Sie ist Individualpsychologin und zertifizierte Expertin für Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. "Das Autonomiestreben bei Kleinkindern ist eine wichtige Entwicklungsphase und deren Abschluss ein Meilenstein in der Persönlichkeitsentwicklung."

Kleinkinder lernen in dieser Lebensphase ihre eigenen Ziele in Einklang mit den sozialen Anforderungen zu bringen. Leider können sie ihre Emotionen noch nicht gut regulieren. Sind sie wütend oder frustriert, weil etwas nicht nach ihren Vorstellungen gemacht wird, weinen, schreien, treten, strampeln, beißen sie. Ja, manche Kinder steigern sich sogar bis zur Bewusstlosigkeit in den Ärger hinein.

Die gute Nachricht: "Bei vielen Kindern beruhigt sich dieser deutliche Widerstand im Alter von etwa vier Jahren wieder." Im Volksschulalter ist der bewusste Umgang mit Wut und Frustration meistens so weit ausgeprägt, dass Trotzanfälle immer seltener werden. Wie lange die Autonomiephase tatsächlich anhält, hängt laut der Expertin aber zu einem großen Teil von der Antwort der Erwachsenen auf das Verhalten der Kleinen ab.

"Auf der einen Seite fühlt es sich für die Kinder toll an, nicht mehr für alles Mama und Papa zu brauchen und selbst Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite sind sie aber noch immer sehr bedürftig und abhängig von erwachsenen Bezugspersonen." Die Psychotherapeutin weiß aus Erfahrung, dass dieser Zwiespalt für Eltern, aber auch für die Kinder selbst sehr herausfordernd sein kann: "Ruhe zu bewahren, obwohl das Kind wie wild wütet, ist nicht einfach", sagt Kain. "Es will damit aber sicher niemanden provozieren."

Bloß nicht schimpfen

Ein konkretes Beispiel: Die dreijährige Lisa möchte ihre Schuhe nicht anziehen. Sie sitzt stur am Boden und brüllt: "Nein!" Die Eltern sehen auf den ersten Blick nur das bockige Kleinkind, das seinen Willen durchsetzen will. "In Wahrheit löst jedes Nein, das Lisa herausschreit, auch Unsicherheit in ihr aus", sagt Kain. Denn auf dem Weg zu mehr gelebtem Willen empfinden kleine Kinder unterbewusst auch Angst, bei zu viel Widerstand die Zuneigung der Eltern zu verlieren oder von ihnen verlassen zu werden. Es begibt sich mit seinem Trotz in eine bedrohliche Situation, die nur durch die Bezugsperson entschärft werden kann. "Lisa braucht jetzt Zuwendung, Wohlwollen und Halt."

Grenzen setzen

Das bedeutet aber nicht, dass man es den Zwergen ständig recht machen muss. Auch Eltern haben nur begrenzte Kapazitäten. "Deswegen ist es so wichtig, dass Eltern früh genug ihre eigenen Grenzen spüren, sonst passiert es schnell, dass sie selbst die Nerven verlieren", sagt Kain. Dann wird gedroht und geschimpft – mit dem Ergebnis, dass sich am Ende alle Beteiligten schlecht fühlen. "Das passiert jedem einmal", sagt Kain. Es sei aber kontraproduktiv: "Je mehr das Kind das Gefühl hat, dass sein Wunsch einfach übergangen oder es sogar dafür bestraft wird, desto stärker verliert es sich in der Auflehnung gegen Grenzen", sagt Kain. Belohnungen seien nicht besser: "Wenn Kinder etwas nur mehr wegen der Aussicht auf eine Belohnung machen, verliert sich in ihnen das Gefühl der Handlungsfähigkeit, des eigenen Bestrebens nach Weiterentwicklung."

Die Psychotherapeutin weiß, dass es in manchen Fällen hilft, mit dem Kind gemeinsam eine Lösung zu finden. In der Autonomiephase sei es für das Kind schließlich wichtig, ernst genommen zu werden. So könnten Lisas Eltern fragen, ob sie sich die Schuhe selber oder ein anderes Paar anziehen will. Und wenn das auch nicht klappt? "Dann darf man das Kind in die eine Hand und die Schuhe in die andere Hand nehmen, das Haus verlassen und dem Kind mitgeben, dass es hier offensichtlich noch Unterstützung in der Entscheidung benötigt", sagt Kain. "Wenn Eltern liebevoll und zugewandt bleiben, dann sind Grenzen für Kinder gut. Sie geben ihnen Sicherheit, Orientierung und Halt." (Nadja Kupsa, 28.1.2024)