Raben und Krähen eilt kein besonders guter Ruf voraus. In Sagen und Mythen gelten sie als düstere Unheilsbringer. Dass die flexiblen Allesfresser auch Aas aus allen erdenklichen Quellen nicht verschmähen, brachte ihnen zudem Beinamen wie Galgenvögel und Leichenfledderer ein. Heute sind die Vögel bei Landwirten verhasst, weil sie für Ernteschäden sorgen können. Oft wird ihnen auch ein schlechter Charakter nachgesagt, der Ausdruck Rabeneltern ist ein prominentes Beispiel dafür.

Rabe, Kolkrabe
Raben haben ein erstaunliches Erinnerungsvermögen und verstehen viel mehr, als man ihnen lange zutraute.
IMAGO/H. Germeraad

Aber sind Raben wirklich schlechte Eltern? Hinter dieser Annahme steckt wie so oft bei der menschlichen Bewertung von Tieren ein Missverständnis, sagt der Verhaltensbiologe und Rabenforscher Thomas Bugnyar von der Universität Wien. Tatsächlich kümmern sich die Vögel intensiv um ihren Nachwuchs.

Nicht von schlechten Eltern

Beobachtern mag das vielleicht anders erscheinen: Rabenjunge schreien in ihrem Nest besonders laut, weil sie untereinander um Futter konkurrieren. Das ist aber kein Zeichen der elterlichen Vernachlässigung. Futterkonkurrenz gibt es auch bei anderen Vogelarten, jedes Jungtier versucht, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erregen und den größten Brocken für sich zu reklamieren. Zu laut darf der Nachwuchs dabei üblicherweise nicht werden, um keine gefährlichen Nesträuber anzulocken. Die Raben können es sich jedoch leisten, Radau zu schlagen.

Schon die Jungen sind vergleichsweise groß, mit den Elterntieren legt sich aber erst recht kein Fressfeind gerne an: Ein Kolkrabe etwa erreicht Flügelspannweiten von bis zu 130 Zentimetern, sein kräftiger Schnabel hält auch gefürchtete Räuber in Schach. Das gilt umso mehr, als ein Rabe selten allein kommt: Die Vögel sind überaus sozial und ausgesprochen intelligent. In vielerlei Hinsicht, lautet eine überraschende Erkenntnis der jüngeren Verhaltensforschung, ticken die Vögel ganz ähnlich wie wir, sagt Bugnyar.

Raben im Schnee, Rabenvögel
Raben sind äußerst sozial – und mitunter ziemlich machiavellistisch.
IMAGO/H. Bouwmeester

Das beginnt schon bei der Sozialstruktur. Raben und Krähen, die gemeinsam eine Gattung innerhalb der Rabenvögel bilden, leben zunächst im Familienverbund. Dann tun sich die Vögel in Gruppen zusammen, schließen mit manchen Artgenossen Freundschaften und bekriegen sich mit anderen. Schließlich suchen sie sich einen Langzeitpartner, werden territorial und brüten regelmäßig.

Trickreiche Tiere

Der Kognitionsbiologe Bugnyar forscht zur sozialen Intelligenz von Raben und Krähen und hat in den vergangenen Jahren viel über ihre komplexen Fähigkeiten herausgefunden, "Angefangen hat das durch Zufall, als ich bemerkt habe, dass Raben andere übers Ohr hauen können", sagt Bugnyar. Die Vögel würden zwar wunderbar miteinander kooperieren, solange sie dasselbe Ziel verfolgen. "Aber sobald es unterschiedliche Interessen gibt, fängt sofort einer an, die anderen irgendwie hereinzulegen", erzählt Bugnyar.

Kognitionsbiologe und Rabenforscher Thomas Bugnyar, Rabenforscher
Thomas Bugnyar mit seiner tierischen Forschungspartner. Bugnyars Buch "Raben" (Brandstätter Verlag) wurde 2023 zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres in der Kategorie Naturwissenschaft gekürt.
Gianmaria Gava

Bei den Tricks der Raben und Krähen zeigen sich erstaunliche kognitive Fähigkeiten. Experimente haben etwa gezeigt, dass die Vögel Handlungen im Voraus planen und sich in andere hineinversetzen können. Rabenvögel merken genau, wenn sie beobachtet werden, und können einschätzen, was ein Artgenosse mitbekommen hat und was nicht.

Verstecken sie zum Beispiel Futter, passen sie tunlichst auf, wer dabei was sehen kann. Umgekehrt gaukeln Raben, die andere beim Futterverstecken beobachten, oft vor, sie hätten nichts gesehen – nur um den Happen im passenden Moment zu stibitzen. "Darin sind sie wirklich gut, und das hätten wir von Vögeln überhaupt nicht erwartet. Zu verstehen, was andere wissen oder nicht wissen können, ist nicht trivial, das geht in Richtung Theory of Mind", sagt Bugnyar.

Theory of Mind

Darunter versteht man die Fähigkeit, zu begreifen, dass andere etwas anderes denken als man selbst und auch falsche Annahmen haben können. Bei Kindern entwickelt sich diese Fähigkeit schrittweise, auch bei Affen wurden Aspekte der Theory of Mind nachgewiesen. Vögeln wurde das lange nicht zugetraut.

Als weitere Überraschung entpuppte sich das phänomenale Gedächtnis von Raben und Krähen. Sie erkennen nicht nur Artgenossen wieder, denen sie jahrelang nicht mehr begegnet sind. Die Vögel merken sich auch Menschen, wie ein Experiment zeigte: Sie prägen sich die Gesichter von Menschen ein, die sich ihnen gegenüber aggressiv verhalten, und reagieren noch Jahre später angstvoll auf ein Wiedersehen. Befreundete Artgenossen werden vor den Übeltätern gewarnt.

Eine andere kognitive Höchstleistung von Rabenvögeln ist ihr Werkzeuggebrauch, der sich keineswegs auf innovative Ideen zum Nüsseknacken beschränkt. Die Geradschnabelkrähe in Neukaledonien etwa ist bekannt für ihr Geschick: Sie bastelt aus kleinen Zweigen Haken, um damit Larven und Insekten aus Baumlöchern zu angeln. In Experimenten zeigen aber auch andere Rabenvögel spontanen Werkzeuggebrauch.

Verblüffendes Vogelhirn

Solche Verhaltensweisen und Fähigkeiten galten bei Vögeln lange als undenkbar. Das hat vor allem mit dem Aufbau ihres Gehirns zutun, sagt Bugnyar. "Vögel haben keine Großhirnrinde, in der bei Säugetieren quasi alle Fähigkeiten zum Denken und zur höheren Datenverarbeitung stecken. Stattdessen sind andere Gehirnteile stark ausgebildet, die bei Säugetieren eher für die basalen Instinkte zuständig sind. Deshalb hielt man Vögel lange für instinktgetriebene Maschinen."

Doch diese Ansicht war völlig falsch: Auch im Vogelhirn gibt es Areale, die höhere Prozesse erlauben und ähnlich leistungsstark sind wie bei Säugetieren. Vergleichbar ist sogar die Anzahl der Gehirnzellen, sagt Bugnyar: Die größten Vogelgehirne sind zwar nur etwa walnussgroß, während das durchschnittliche Affenhirn etwa die Größe einer Faust hat. "Untersuchungen haben gezeigt, dass die großen Rabenvögel und Papageien eine Anzahl von Zellen im Gehirn haben, die jener bei Primaten entspricht. Auf Menschenaffenniveau sind sie nicht, aber absolut vergleichbar mit durchschnittlichen Primaten."

Für Bugnyar steht fest, dass die Forschung zur Intelligenz von Vögeln und anderen Tieren eigentlich noch am Anfang steht. Die Folgen der bisherigen Erkenntnisse sind aber schon jetzt groß: "Wir Menschen sind sehr selektiv, wenn es darum geht, unsere ethischen Grundsätze anzuwenden. Je mehr wir verstehen, wie andere Tiere denken und wie es ihnen geht, desto offensichtlicher wird das." (David Rennert, 27.1.2024)