Evergrande Gebäude in Peking, China.
Die Papiere von Tochterfirmen der Evergrande Group wurden am Montag vom Handel ausgesetzt.
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Shenzhen/Hongkong – Der chinesische Immobilienkonzern Evergrande schlingert seit Jahren. Der weit verzweigte Konzern ist über seine Schulden gefallen und fand jahrelang keinen Ausweg aus seiner Krise. Jetzt hat ein Gericht in Hongkong die Auflösung des hochverschuldeten Konzerns China Evergrande angeordnet. Ein entsprechendes Urteil fällte Richterin Linda Chan am Montag in der chinesischen Sonderverwaltungszone, wie mehrere Medien übereinstimmend berichteten. Gläubiger hatten vor dem Gericht geklagt, weil Evergrande immer wieder Zahlungsfristen hat verstreichen lassen. "Genug ist genug", sagte Chan. Evergrande ist mit Schulden in der Höhe von mehr als 300 Milliarden Dollar (275,96 Milliarden Euro) das weltweit höchstverschuldete Immobilienunternehmen.

Evergrande werde in Ermangelung eines konkreten Restrukturierungsplans abgewickelt. Der Konzern habe mehr als 18 Monate lang keine effektive Kommunikation oder Lösungen angeboten. Das Verfahren war zuvor mehrfach vertagt worden. Es wird erwartet, dass ein kommissarischer Insolvenzverwalter ernannt wird. Zuvor hatte das Unternehmen noch versucht, mit einem Sanierungsplan eine Liquidation abzuwenden. Die Firma sei aber immer noch nicht fähig, einen konkreten Vorschlag für eine Restrukturierung vorzubringen, bemängelte Chan laut der "South China Morning Post".

Video: Chinesischer Baukonzern Evergrande soll abgewickelt werden.
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Bauprojekte sollen weitergeführt werden

Evergrande-Chef Siu Shawn kündigte in chinesischen Medien an, das Unternehmen werde sicherstellen, dass die Bauprojekte trotz der Liquidationsanordnung weitergeführt werden. Die Anordnung habe keine Auswirkungen auf den Betrieb.

Die Gerichtsentscheidung schafft die Voraussetzungen für ein voraussichtlich langwieriges und kompliziertes Verfahren, das angesichts der vielen beteiligten Behörden auch politische Aspekte beinhalten kann. Investoren werden besonders darauf achten, wie die chinesischen Behörden ausländische Gläubiger behandeln, wenn ein Unternehmen abgewickelt wird. "Dies ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines langwierigen Liquidationsprozesses, der Evergrande das tägliche Geschäft noch schwerer machen wird", sagte Gary Ng, Senior Economist bei Natixis. Da sich die meisten Vermögenswerte von Evergrande direkt in China befänden, gebe es Unsicherheiten darüber, wie die Gläubiger Vermögenswerte beschlagnahmen können, und über den Rückzahlungsrang von auswärtigen Anleihegläubigern. "Und die Situation kann für die Aktionäre noch schlimmer werden."

Ein unendlicher Strudel

Evergrande hatte fast zwei Jahre lang mit einer einflussreichen Gruppe von Gläubigern, zu der auch mehrere Hedgefonds gehören, vergeblich um eine Umschuldung von 23 Milliarden Dollar gerungen, die der Immobilienentwickler sich auf den internationalen Märkten geliehen hatte. Der ursprüngliche Umschuldungsplan war im September geplatzt, nachdem Ermittlungen gegen Firmengründer Hui Ka Yan bekannt wurden. Der Gläubigerausschuss hatte auch den neuesten, quasi in letzter Minute vor einer Anhörung Anfang Dezember vorgelegten Restrukturierungsplan abgelehnt.

Es wird erwartet, dass das Urteil kurzfristig nur geringe Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit des Konzerns, einschließlich der Hausbauprojekte, haben wird. Die schwierigste Aufgabe für den offiziellen Abwickler dürfte es sein, die Beteiligungen in China selbst unter seine Kontrolle zu bekommen, indem er dort jeweils das Management austauscht. Das könnte Monate, wenn nicht Jahre dauern. Denn Guangzhou, wo China Evergrande seinen Sitz hat, erkennt Liquidationsbeschlüsse aus Hongkong nicht automatisch an. Außerdem sind zahlreiche dieser Firmen bereits in der Hand ihrer Gläubiger, ihre Vermögenswerte von Gerichten eingefroren - andere sind schon pleite. Angesichts der Größe von Evergrande dürften viele Behörden und Politiker hier ein Wort mitreden wollen.

Die Aktien des Unternehmens wurden vor der Anhörung mit einem Minus von bis zu 20 Prozent gehandelt. Der Handel mit China Evergrande und seinen börsennotierten Tochtergesellschaften New Energy Vehicle Group und Evergrande Property Services wurde nach dem Urteil am Montag eingestellt. Die Regierung hatte erst jüngst versucht, den Aktienmarkt wieder zu stabilisieren. Auch andere Unternehmen aus der chinesischen Immobilienbranche sind hoch verschuldet und streiten mitunter vor Gericht mit Gläubigern.

Der Firmensitz von Evergrande. An der Spitze ist das Logo zu sehen.
Evergrande ist weltweit der höchstverschuldete Immobilienentwickler. Der Sektor ist schon seit Jahren in Schieflage. Eine Lösung konnte bisher nicht gefunden werden.
AP/Ng Han Guan

Immer wieder war erwartet worden, dass Peking eingreift und den Immo-Riesen auffängt. Denn ein unkontrollierter Zusammenbrauch des Konglomerats könnte innerhalb Chinas weitreichende Folgen haben. Der Immobiliensektor trägt bis zu 16 Prozent zu Chinas BIP bei. Durch die Nachfrage nach Rohstoffen, Arbeitskräften und Finanzierungen ist Chinas Bausektor einer der wichtigsten Wirtschaftsindikatoren der Welt.

Die chinesische Zentralbank hatte bis Ende 2021 bereits Milliarden an Liquidität in das Finanzsystem gepumpt, um etwaige Ausfälle abzufedern, und erklärt, sie werde die Interessen der Privatanleger schützen. Ein klarer Plan, ob und wie die Zentralregierung Evergrande stützen bzw. auffangen wird, wurde bis zuletzt nicht auf den Tisch gelegt.

Probleme auch im E-Auto-Sektor

Zu Evergrande gehört nicht nur das Immobiliengeschäft. Der Konzern ist tief in die chinesische Wirtschaft verflochten und in mehreren Sektoren aktiv – von E-Autos bis hin zu Themenparks, Medien und Konsumgütern wie Mineralwasser und Babymilch. Probleme gibt es nicht nur in der Immo-Sparte. Chinesische Behörden haben Anfang Jänner Liu Yongzhuo, den Vize-Verwaltungsratschef des Elektroautobauers Evergrande New Energy Vehicle (NEV), festgenommen. Die Behörden werfen Yongzhuo "verschiedene Straftaten" vor, wie die Elektroautosparte mitteilte. Die E-Auto-Sparte hat wegen der finanziellen Schieflage von Evergrande wiederholt davor gewarnt, bei ausbleibendem frischem Kapital den Betrieb einstellen zu müssen. Evergrande NEV wurde 2019 gegründet und sollte "in drei bis fünf Jahren" der führende Elektroautoanbieter der Welt werden. 2022 startete die Produktion des ersten Modells. Doch die finanzielle Schieflage des Mutterkonzerns wirkte sich auch auf den Autobauer aus. Der Handel mit Aktien des Autobauers war bereits von April 2022 bis Juli 2023 ausgesetzt, weil das Unternehmen keine Bilanzen vorlegen konnte. Der Wert des Unternehmens wird aktuell auf umgerechnet noch rund 520 Millionen Dollar (458 Mio. Euro) geschätzt.

Country Garden und Co

Evergrande ist nicht das einzige Immo-Unternehmen, das in Probleme geschlittert ist. Der bisherige Branchenprimus Country Garden kämpft ebenfalls um sein finanzielles Überleben. Ein Zusammenbruch von Country Garden könnte eine Kettenreaktion im Sektor auslösen und die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft in eine Rezession stürzen. Zwar sind die Schulden von Country Garden mit umgerechnet 178 Milliarden Euro nur etwas mehr als halb so hoch wie die von China Evergrande. Allerdings sind landesweit derzeit rund 3100 Projekte des Konzerns unvollendet, fast vier Mal so viele wie beim Rivalen. Von den Verbindlichkeiten im Volumen von umgerechnet 178 Milliarden Euro werden fast 14 Milliarden Euro in den kommenden zehn Monaten fällig. Dem stehen Barmittel von weniger als 13 Milliarden Euro gegenüber. Bis zum Jahresende muss das Unternehmen dem Branchendienst CreditSights zufolge in- und ausländischen Investoren jeden Monat Zinsen im Gesamtvolumen von 1,6 Milliarden Euro zahlen.

All diese Probleme haben freilich auch die Ratingagenturen auf den Plan gerufen. Wegen eines möglichen Zahlungsausfalls hatte Moody's die Bonitätsnote von Country Garden bereits im Oktober 2023 um drei Stufen auf "Caa1" gesenkt. Gleichzeitig signalisierte die Ratingagentur mit einem negativen Ausblick mögliche weitere Herabstufungen.

Bei einem Zusammenbruch drohen weitreichende Dominoeffekte: Viele Baufirmen und auch Banken könnten in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Dadurch würde sich die Hoffnung auf eine rasche Erholung der chinesischen Konjunktur von den Folgen der Coronavirus-Pandemie endgültig zerschlagen.

Chinesen probten Aufstand

Das Chaos im Immobiliensektor hat auch Folgen für die Bevölkerung. Schon zu Beginn der Troubles bei Evergrande 2020 gab es Aufrufe in den sozialen Medien, die Raten für die Wohnungen, die Millionen Chinesen gekauft haben, nicht mehr zu bezahlen. Der Grund dafür war bzw. ist, dass sich aufgrund der Geldsorgen der Bau von Wohnungen, für die die Käufer schon Raten zahlten, immer weiter verzögert hatte. In China sind in den vergangenen Jahren Immo-Investments groß in Mode gekommen. Viele Chinesen investierten ihr Geld in Wohnungen, damit floss immer mehr Geld in diesen Sektor. In der Folge stiegen die Preise.

Das Logo des Immobilienentwicklers Country Garden schwebt über einen Komplex an Hochhäusern.
In China wurden in den vergangenen Jahren Millionen Wohnungen gebaut. Die Investments vieler Chinesen in den boomenden Sektor haben selbigen überhitzt.
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Wer zum Beispiel Ende der Neunzigerjahre eine Drei-Zimmer-Wohnung in Schanghai für einen mittleren fünfstelligen Betrag erwarb, dürfte 2022 bereits Millionär gewesen sein. Durch die hohen Wertsteigerungen floss noch mehr Geld in den Markt. Für die Immobilienentwickler hieß das: immer mehr Wohnungen, immer schneller gebaut. So wurde es Usus, Wohnungen zu verkaufen, die noch gar nicht gebaut waren. Bald wurde der Bau von bereits verkauften Wohnungen durch den Verkauf neuer Wohnungen finanziert – das sind bekannte Kennzeichnen eines Pyramidenspiels.

Wie ein Pyramidenspiel

Das ging gut, solange sich die Maschinerie immer schneller drehte. Im Sommer 2020 aber entschied die Regierung, Luft aus dem überhitzten Sektor zu lassen. Drei rote Linien sollten das schuldenbasierte Wachstum der Immobilienkonzerne bremsen. Diese besagten, dass das Verhältnis der Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten unter 70 Prozent liegen muss, der Nettoverschuldungsgrad nicht höher als 100 Prozent sein darf und das Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten größer als Faktor eins sein muss. Das brachte den Sektor ins Wanken, Evergrande schliltterte schnell in die Schieflage. Andere Immo-Entwickler folgten. Insgesamt dürfte mindestens ein Fünftel aller Unternehmen aus der Branche betroffen sein. (APA, red, 29.1.2024)